Ein Roman von Mira Steffan
Wie eine schlaffe Bananenschale hing sie über ihren Schreibtisch. Ihr Kopf war mittlerweile so leer wie ein ausgehöhlter Kürbis. Nervös schaute Charlotte auf die Uhr in der rechten Ecke ihres Computerbildschirmes: 16:30 Uhr. Es war Freitag. Heute kam Justus von der Geschäftsreise wieder. Sie würde ihn heute Abend vom Flughafen abholen. Außer ihrem Chef waren alle längst nach Hause gegangen. Und das machte sie jetzt auch. Sie hatte sich bei ihren Eltern zwar erst für 18 Uhr angemeldet, um Emma abzuholen, wollte aber keine Sekunde länger mehr über Zahlen brüten. Mit ihrer benutzten Kaffeetasse ging sie über den Gang in die Teeküche und stellte sie in die Spülmaschine. Zurück im Büro fuhr sie den Rechner runter, schaltete das Licht aus und eilte in die Tiefgarage. Ab ins Wochenende und zu Emma.
Als sie bei ihren Eltern vorfuhr, kam Herr Zimmermeister, der Nachbar ihrer Eltern, gerade aus der Haustür und grinste sie an. Sie grinste zurück und winkte ihm zu. Da merkte sie, dass er gar nicht grinste, sondern lediglich die Zähne entblößte, weil die Sonne ihn blendete. Charlotte schüttelte den Kopf und konnte ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken. Was für eine dämliche Grimasse. Das sah wirklich nicht schön aus. Jetzt erblickte Herr Zimmermeister sie. Grüßend hob er die Hand und grinste sie an. Oder die Sonne. Egal, sie stieg aus. Im selben Moment öffnete sich die Haustür ihres elterlichen Heimes und Emma lief auf sie zu. Sie breitete beide Arme aus und wirbelte sie im Kreis herum.
„Opa hat mir ein Skateboard gekauft, und Oma hat mit mir Kekse gebacken“, Emma war vor lauter Aufregung ganz atemlos.
Charlotte gab Emma einen Kuss auf die Wange und sah ihren Vater in der Tür stehen. Er zwinkerte ihr fröhlich zu: „Komm rein. Wie war das Treffen gestern mit deiner Schwester? Spaß gehabt?“
„Klar“, sagte sie und gab ihrem Vater ebenfalls einen Kuss auf die Wange.
Ihre Mutter kam ihr mit einer Küchenschürze entgegen, auf der eine rollschuhfahrende Frau mit einem grauen Knoten zu sehen war. Unter dem Bild stand: „Beste Oma“. Ein Geschenk der Zwillinge.
„Wir haben bis gerade gebacken. Hier ist unsere Ausbeute“, sagte ihre Mutter und drückte ihr eine große, durchsichtige Tüte mit Keksen in die Hand.
„Die essen wir gleich mit Papa.“ Emma hüpfte um sie herum und sang dabei „Backe, backe Kuchen“.
Das machte sie noch nervöser als sie schon war. „Lass das“, sagte sie schroff zu Emma.
„Komm mal mit“, ihre Mutter zog sie in die Küche, „ich habe dir etwas von unserem Mittagessen aufbewahrt. Setz dich“, sie deutete auf einen Küchenstuhl, ging zum Kühlschrank, zog einen mit Alufolie abgedeckten Teller heraus, entfernte die Folie, stellte ihn in die Mikrowelle, tippte zweieinhalb Minuten ein und drehte sich zu Charlotte um: „Stress gehabt?“
Sie winkte ab: „Heute lief alles reibungslos. Aber die letzten zwei Wochen hatten es in sich.“ Nachdenklich stützte sie ihr Kinn in ihrer rechten Handfläche ab: „Wenn ich es so richtig bedenke, ist es weniger die Arbeit, die anstrengend ist, sondern vielmehr die Kollegen, die mir Information vorenthalten.“
Ihre Mutter sah sie fragend an.
„Da ist eine Kollegin in der Buchhaltung, die mir falsche oder gar keine Zahlen nennt, wenn ich sie nach den Ausgaben für die Materialien frage. Damit kann ich nicht arbeiten. Schließlich muss ich mir ein Bild machen können, um festzustellen, wo gespart werden kann.“
„Genau davor hat sie Angst.“ Charlotte runzelte die Stirn.
„Sie hat Angst, dass du ihre Stelle einsparen willst oder dass du ihr sagst, wie sie ihren Job zu machen hat. Deswegen boykottiert sie dich.“
„Das ist doch Quatsch. Ich will doch nur Arbeitsabläufe optimieren und Unnötiges abschaffen.“
„Genau“, sagte ihre Mutter milde lächelnd, als die Mikrowelle mittels eines durchdringenden Pfiffs zu erkennen gab, dass sie mit dem Aufwärmen fertig war.
Zwei Stunden später standen Emma und Charlotte im Ankunft-Terminal des Flughafens und warteten auf Justus. Seine Maschine war vor einer Viertelstunde gelandet. Nach einer weiteren Viertelstunde kam er durch einen langen Gang mit einem Kollegen auf sie zu. Emma war ganz hibbelig.
Als sie ihn sah, quietschte sie laut auf vor Begeisterung: „Da ist er.“ Aufgeregt zog sie an Charlottes Mantel.
Justus schaute in ihre Richtung und seine Augen leuchteten auf. Kurz verabschiedete er sich von seinem Kollegen. Dann erhellte ein liebevolles Lächeln sein Gesicht. War es für sie beide bestimmt? Oder galt es nur Emma? Doch seine feste Umarmung umschloss sie beide.
Kaum saßen sie im Auto, zeigte ihm Emma die selbstgebackenen Kekse, öffnete die Schleife und angelte zwei heraus, die sie jeweils ihren Eltern hinhielt. Gleichzeitig bissen Justus und Charlotte in ihre Plätzchen hinein. Fragend schaute Emma sie an.
„Mhm, lecker“, sagte Charlotte. Sie schmeckten wirklich gut.
Justus nickte zustimmend: „Sehr gut gemacht. Bekomme ich noch einen?“
Stolz reichte Emma ihm einen zweiten Keks. Charlotte schaute beide an und völlig unvorbereitet spürte sie Glück in jedem Winkel ihres Körpers. Wenn es doch immer so wäre.
Entspannt lehnte sich Justus in seinem Sitz zurück und kaute zufrieden den Keks. Er liebte seine beiden Mädchen. Warum konnte es nicht immer so sein?