Ein Roman von Mira Steffan
„Mhm“, Charlotte schaute angestrengt in die Karte. Hoffentlich änderte sie das Gesprächsthema. Sie hatte nämlich keine Lust so zu tun, als sei bei ihr und Justus alles in Ordnung.
„Du, ich habe in einem kleinen Modegeschäft in Ibiza Stadt ein wirklich tolles Kleid und wunderbar passende Sandaletten gefunden. Sven war hingerissen“, sagte Pauline und schwärmte von dem Strand, dem Wetter und den freundlichen Menschen. Und so ging das den restlichen Abend weiter. Nach drei Stunden wusste Charlotte das Neueste von den Zwillingen, von den Eltern ihrer Schüler, ihrer Eierfrau, ihren Schwiegereltern, der Nachbarin mit den roten Haaren und dem hässlichen Hund und der Wettervorhersage.
Ihre Schwester war Weltmeisterin im belanglosen Geplauder. Es gab Zeiten, da machte das Charlotte fertig. Aber nicht heute. Sie war froh, nicht nachdenken zu müssen. Leicht, freundlich und seicht floss das Gespräch dahin. Erst als sie wieder auf dem Parkplatz vor ihren Autos standen unterbrach Pauline sich kurz: „Ach herrje, jetzt habe ich ganz vergessen, nach deinem neuen Job zu fragen.“
Charlotte winkte ab: „Kein Problem. Es läuft gut. Die Kollegen sind ganz okay und die Arbeit interessant. Und ich bin unseren Eltern echt dankbar, dass sie auf Emma aufpassen, bis ich oder Justus Feierabend machen können.“
Pauline nickte: „Das machen sie super. Als ich nach der Geburt der Zwillinge wieder angefangen habe zu arbeiten – und das war nur halbtags – haben sie mir auch beigestanden. Wenn ich daran denke, wie oft Marie und Liam krank waren. Wenn Mama und Papa nicht eingesprungen wären, hätte ich wieder aufhören müssen zu arbeiten.“
Charlotte nickte mechanisch, während Pauline, ganz versunken in der Vergangenheit, über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie philosophierte. Eine Viertelstunde später schaute Pauline bestürzt auf ihre Armbanduhr: „Oh, schon so spät. Ich muss nach Hause. Sven wartet auf mich“, sie drückte Charlotte an sich, „Es war schön, mal wieder mit dir zu reden. Wir haben ja immer so viel zu erzählen.“
Charlotte lächelte. Was sollte sie sonst tun.
Es heißt: Geschwister kann man sich nicht aussuchen, man wird in diese Beziehung hineingeboren und kommt nie wieder aus ihr heraus. Vielleicht war das die Antwort auf die Widersprüche in ihrer Liebe zu Pauline. Denn Abgrenzung, blindes Vertrauen, Rivalität, Liebe, Wertschätzung, Ignoranz, Zusammengehörigkeitsgefühl gingen dabei Hand in Hand.
Als Pauline auf die Welt kam, hatte Charlotte sie stundenlang im Kinderwagen vor dem Elternhaus hin und her gefahren. Die Straße hoch, und die Straße wieder runter. Charlotte hatte noch nie so eine hübsche Puppe besessen und war mächtig stolz. Und einmal rettete sie ihr das Leben. Es war in den Sommerferien. Ihre Eltern hatten ein Haus mit Swimmingpool in Frankreich gemietet. Pauline spielte im Garten, während Charlotte auf einer Sonnenliege sitzend die Muscheln betrachtete, die sie am Tag zuvor am Strand gesammelt hatte. Die Hitze machte sie müde und träge, als eine Stimme in meinem Inneren unvermittelt laut und deutlich „aufpassen“ rief. Charlotte riss den Kopf hoch und sah Pauline auf den Pool zukrabbeln. Sie schoss von ihrer Liege hoch und konnte sie, kurz bevor sie kopfüber ins Wasser geplumpst wäre, rechtzeitig an den Trägern ihrer Hose packen und vom Wasser wegziehen. Dieses Erlebnis hatte die Beziehung zu ihrer drei Jahre jüngeren Schwester geprägt. Für sie war sie immer die Kleine, diejenige, die man mit Samthandschuhen anfassen musste.
Charlotte hatte abgehetzt gewirkt, obwohl sie versucht hatte, es zu verbergen, dachte Pauline und trommelte gereizt mit ihren rot lackierten Nägeln auf dem Lenkrad herum. Zähfließender Verkehr. Sie tippte auf die Taste mit Svens Telefonnummer. Als sie seine Stimme über die Freisprechanlage hörte, lächelte sie und entspannte sich: „Hallo Schatz. Ich bin auf dem Weg nach Hause, komme aber etwas später. Auf der A 59 geht es nur schleppend voran. Keine Ahnung, wie lange das noch dauert.“
„Ich habe es gerade auf meiner Verkehrs-App gesehen. Anscheinend ist da eine neue Baustelle.“
„Sind Marie und Liam schon zu Hause?“
„Ja, sie sind gerade vom Sport zurück. Wir fangen schon mal mit dem Kochen an. Die beiden haben einen Mordshunger.“
„Prima. Dann bis gleich“, sage Pauline lächelnd und schickte einen Kuss hinterher.
Während sie den Gang einlegte, Gas gab, bremste und wieder kuppelte, Gas gab und bremste, drifteten ihre Gedanken noch einmal zu Charlotte. Ihre große Schwester – ihr Vorbild und doch auch irgendwie nicht. Sie liebte sie, konnte sie aber manchmal überhaupt nicht ausstehen. Nachdenklich legte Pauline ihre Stirn in Falten. Das lag eigentlich nicht an Charlotte, sondern eher an dem Umfeld. Sie konnte es einfach nicht leiden, wenn ihre Eltern Charlotte in den höchsten Tönen lobten. Das erzeugte ein Gefühl der Unzulänglichkeit in ihr. Ungesagt schwebte mit dem Lob für Charlotte immer Kritik an ihr mit. Ist es nicht so, dass wenn man den einen in der Anwesenheit des anderen lobt, dem anderen zu verstehen geben will, dass er ein Versager ist? Pauline schüttelte unbehaglich ihren Kopf. War das Neid oder nur der Wunsch nach Anerkennung? Beklommen zog sie die Schultern hoch, umfasste das Lenkrad fest mit beiden Händen und konzentrierte sich erneut auf das Auto vor sich.