Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 12

Ein Roman von Mira Steffan

19:30 Uhr: Charlotte schaltete ihren Rechner aus und machte Feierabend. Sie war mit ihrer Schwester Pauline zum Essen verabredet. 25 Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des Restaurants. Als sie ausstieg, sah sie Paulines dunkelblaues Cabrio auf sich zu fahren. Ihre Schwester winkte fröhlich, fuhr einen Bogen um sie und parkte mit Schwung neben ihrem weißen Golf.

„Mensch, sind wir beide mal wieder pünktlich“, sagte Pauline während sie aus ihrem Wagen stieg und lächelte breit.

Gut sah sie aus. Das rosa-graue Sweatshirt betonte ihre leicht gebräunte Haut und ihre blauen Augen. Die schulterlangen dunkelblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre langen Beine steckten in blauen dreiviertellangen Jeans, ihre Füße in weißen Sneakers. Automatisch schaute Charlotte an sich runter. War sie passend angezogen? Sah Pauline besser aus? Und gleichzeitig schüttelte Charlotte über sich den Kopf: Was sollte diese unreife Anwandlung? Sie war mal wieder in ihre mit Unsicherheit durchzogene Pubertät zurückgefallen. Denn soweit sie zurückdenken konnte, waren sie immer miteinander verglichen worden. Nicht von ihren Eltern. Aber von den Großeltern, den Verwandten und den Freunden und Bekannten ihrer Eltern. Charlotte konnte sich an Sätze erinnern wie: Pauline kann viel besser auswendig lernen als Charlotte. Charlotte ist besser in Mathe als Pauline. Pauline sieht in ihrem neuen Kleid hübsch aus, aber Charlotte hätte was anderes anziehen sollen, die Hose ist zu eng für ihre Oberschenkel. Pauline spielt besser Klavier. Nur um zwei Wochen später festzustellen, dass Charlotte besser spielt.

Diese, ohne Zurückhaltung ausgesprochenen Degradierungen, hatten bei Charlotte Spuren der Unsicherheit hinterlassen. Unwillkürlich musste sie an einen Satz denken, den sie irgendwo mal gelesen hatte: „Wer anfängt sich zu vergleichen, hat schon verloren.“ Und noch eine weitere Weisheit fiel ihr ein: „Der Vergleich ist der Versuch, aus einem Menschen zu machen, was er nicht ist: einen anderen.“

Gute Sätze. Halfen im Moment aber auch nicht. Resolut schüttelte Charlotte das ungute Gefühl ab und wandte sich Pauline zu.

Ihre Schwester war drei Jahre jünger als sie, unterrichtete Englisch und Pädagogik am Immanuel-Kant-Gymnasium in Köln und war seit 13 Jahren mit ihrem Kollegen Sven Böhm verheiratet. Als sich vor zwölf Jahren die Zwillinge angekündigt hatten, hatte sie ihre Unterrichtsstunden reduziert.

Pauline nahm Charlotte in die Arme: „Lass dich drücken, Lieblingsschwester.“

Lächelnd erwiderte sie ihre herzliche Umarmung. Untergehakt schlenderten sie auf das Restaurant zu.

„Wie war es auf Ibiza?“

„Fantastisch. Viel Sonne, viel Entspannung, viel Sex.“

Kichernd stupste Charlotte Pauline mit meinem Ellenbogen in die Seite. Pauline lachte auf und tänzelte gut gelaunt auf die Tür des Restaurants zu, zog sie auf, trat zur Seite, machte einen Kratzfuß in ihre Richtung: „Bitte sehr, die Dame.“

Charlotte ließ sich von ihrer guten Laune anstecken. Grinsend betrat sie den Empfangsbereich. Eine junge, brünette, freundlich lächelnde Frau in weißer Bluse und blauer Stoffhose begrüßte sie.

„Ich habe einen Tisch auf den Namen Reimann bestellt.“

Die junge Frau schaute auf ihr Klemmbrett und nickte: „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Der Tisch befand sich in einer Nische, direkt am Fenster mit Blick auf den angrenzenden Park. Ein Kellner kam und reichte die Speisekarte.

„Das solltet ihr auch mal ausprobieren“, sagt Pauline.

„Was?“ fragte Charlotte zerstreut, denn sie war ganz in der Frage versunken, ob sie eine Calzone oder Cannelloni bestellen sollte.

„Urlaub ohne Kind“, sagte ihre Schwester und grinste so zufrieden wie Prinzessin Lillifee morgens nach dem Frühstück. Denn die Zwillinge hatten die zwei Wochen bei Svens Eltern verbracht.

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