Das Labyrinth der Charlotte Reimann – Episode 10


Ein Roman von Mira Steffan

Die Energie und die Stimmen der anderen klebten in ihrem Kopf. Charlotte schaltete das Radio aus. Kein einziges Geräusch konnte sie mehr ertragen. Die Uhr in der Multifunktionsanzeige ihres Autos zeigte 22 Uhr. Ein weiterer anstrengender Arbeitstag mit vielen neuen Gesichtern lag hinter ihr. Sie fühlte sich platt wie eine Briefmarke. Das einzig Gute daran war, dass sie durch all die Turbulenzen das Naschen vergessen hatte. Neun Kilo waren in den letzten Wochen dahingeschmolzen wie Butter in einer heißen Pfanne. Charlotte musste an Günter Heinze denken, ihren neuen Chef.

An ihrem ersten Tag hatte er sie in einem säuerlichen Ton darauf hingewiesen, dass sie sich keinen Illusionen hingeben solle. Mehr als das, was man ihr an Geld und Position angeboten habe, werde sie nicht bekommen. „Damit gehen Sie in den Ruhestand“, das genau waren seine Worte, die Charlotte mit Befremden vernommen hatte. Bisher hatte er sich allerdings als kooperativ erwiesen. Wahrscheinlich war er froh, Arbeit los zu sein. Okay, sie musste sich ellenlange Monologe über seine unglaublich effiziente Arbeit anhören und seinen unglaublich sportlichen, intelligenten Sohn und seine unglaublich attraktive, blonde Gattin. Aber hey, wenn das alles war.

Als sie 20 Minuten später den Schlüssel in ihre Haustür steckte, merkte sie, wie die Müdigkeit bleiern durch ihren Körper waberte. Angestrengt hob sie ihren rechten Arm, der sich anfühlte, als hinge eine Zehn-Kilo-Hantel an ihm, griff in die Handtasche, tastete nach dem Schlüssel und schloss die Haustür auf, trat in den Flur.

Wohltuende Ruhe umfing sie. Emma war bei ihren Eltern. Justus auf Geschäftsreise. Charlotte hing ihren Mantel an die Garderobe, kickte ihre Schuhe in die Ecke darunter. Im Kühlschrank stand eine Flasche Martini, im Gefrierfach fand sie Eiswürfel, beides füllte sie in ein Cocktailglas und prostete sich zu. Langsam und genießerisch ließ sie die kalte Flüssigkeit auf ihrer Zunge zergehen. Es tat so gut, sich für sich zu haben. Ihre Nackenmuskeln gaben die Verspannung auf. Hunger meldete sich. Unvermittelt hatte sie Lust auf Nudeln mit Blattspinat und Parmesan. Während sie kochte, nippte sie immer wieder am Martini. Der Alkohol ließ ihre Probleme und den Stress schrumpfen: Das Leben ist schön, dachte sie benebelt. Leider erwachte ihr Realitätssinn wieder nach dem Essen. Der leichte Schwips warweg. Sie rief bei ihren Eltern an und vergewisserte sich, dass es Emma gut ging. Ihre Eltern waren hellauf begeistert und überredeten sie, Emma noch bis zum Wochenende bei ihnen übernachten zu lassen. Ihr Vater versicherte ihr, dass es ihn fit halte, Emma zur Schule zu fahren und die Erledigung ihrer Hausaufgaben zu überwachen und es genieße, ihr abends vor dem Zubettgehen Geschichten vorzulesen. Bevor Charlotte schlafen ging, antwortete sie Justus auf seine Nachricht, die er ihr schon vor drei Stunden per Smartphone geschickt hatte. Dann fiel sie endlich in die Kissen.

Als Charlotte wach wurde, war es noch dunkel. Sie tastete nach ihrem Wecker und drückte auf den Beleuchtungsknopf. 3:29 Uhr. Sie machte die Augen fest zu, fand aber keinen Schlaf. Ein seltsamer Zustand. Sie war müde und gleichzeitig hellwach. Was sollte sie jetzt tun. Lesen, frühstücken? Weder noch. Zu dem einen hatte sie keine Lust, für das andere war es noch viel zu früh. Sie wälzte sich unruhig hin und her, schloss die Lider über ihre müden und brennenden Augen, drehte sich auf die rechte Seite, winkelte ihre Beine an, schob ihre Hand unter das Kopfkissen. Und ehe sie es verhindern konnte, trieben ihre Gedanken ankerlos zu dem monologisierenden, selbstgefälligen, empathielosen Heinze, dem eiskalten Meier und seiner Vorzimmersekretärin Heidi Lah mit ihren zusammengekniffenen, dünnen Lippen, heruntergezogenen Mundwinkeln und dem schrillen Lachen, die über jeden in der Firma herzog, und zu dem Kollegen Burkhard Fligge aus der Buchhaltung mit dieser seltsamen anmaßenden und gleichzeitig devoten Art.

Wenn diese Menschen auch schwierig waren, ihren neuen Job würde sie auf keinen Fall aufgeben. Sie wollte niemals wieder dieses Gefühl des Identitätsverlustes der letzten Jahre erleben. Nur Mutter zu sein war in dieser Gesellschaft eben nicht genug. Wobei, wenn sie in Ruhe darüber nachdachte, war es auch nicht richtig, als Mutter Vollzeit zu arbeiten. Das Wort Rabenmutter war in diesem Zusammenhang leider immer noch zu hören. Halbtags arbeiten war die Zauberformel. Familiengründung und Emanzipation vertragen sich nicht. Frustriert ließ sie das Thema fallen. Ihre Gedanken reisten durch die letzten Tage und blieben bei dem kurzen Gespräch mit Burkhard Fligge hängen: „Eine neue Stelle anzutreten ist nicht einfach. Besonders das erste Jahr ist sehr anstrengend. Es ist ein neuer Lebensabschnitt.“

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