Episode 8 – Das Labyrinth der Charlotte Reimann

Ein Roman von Mira Steffan

Geschafft. Sie hatte es getan. Die Bewerbungen waren abgeschickt. Nachdenklich stellte sie den Wasserkocher an, holte einen Kamillenteebeutel und ihre Teetasse aus dem Schrank. Mit der Hüfte lehnte sie sich an die Küchenzeile und hing ihren Gedanken nach. Ob das für ihre kleine Familie und ihre Ehe das Richtige war? Ob sie für Emma einen Platz in der Offenen Ganztagschule bekommen würde? War sie egoistisch? Charlotte schüttelte ihren Kopf. Sie sollte die Dinge auf sich zukommen lassen. Sie sollte nicht so viel denken. Obwohl – kann man eigentlich zu viel denken? Das Wasser kochte. Sie goss es in ihre Tasse und dachte weiter: an Justus und Emma und die Liebe.

Zusammen kamen sie die Rolltreppe hochgefahren. Emma winkte aufgeregt, Justus stand hinter ihr und lächelte Charlotte zu. Er wirkte entspannt. Die helle Bräune ließ seine blauen Augen intensiv leuchten. Auch Emma sah sonnengebräunt und erholt aus. Lachend lief Emma auf Charlotte zu und stürzte sich in ihre Arme. Fest drückte Charlotte ihr Kind an sich. Justus umarmte beide. „Ihr seht toll aus“, sagte Charlotte. Justus gab ihr über Emmas Kopf hinweg einen Kuss auf den Mund: „Du auch.“ Perplex und erfreut lächelte sie ihn an. Es war lange her, dass er ihr ein Kompliment gemacht hatte. „Das meine ich ernst“, sagte er nachdrücklich und stricht ihr mit dem Handrücken liebevoll über die Wange. Beschwingt dirigierte Charlotte ihre kleine Familie zum Aufzug und zum Auto, während Emma pausenlos von ihren Erlebnissen plapperte.

„Warte Mama“, quiekte Emma, als Charlotte zu Hause Emmas kleinen Koffer auspacken und in den Seitentaschen nachschauen wollte. Charlotte zuckte zurück. Mit einem feierlichen Gesichtsausdruck verschwand nun Emmas Hand in der Tasche. Als sie wieder erschien, lag eine hübsche Muschel mit einem großen gewundenen Gehäuse darin. „Die ist für dich“, sagte sie stolz. Gerührt nahm sie das Geschenk entgegen. „Da – hör mal. Das Meeresrauschen“, sagte Charlotte und hielt Emma das Gehäuse ans Ohr. Mit großen Augen lauschte sie: „Tatsächlich.“ Lächelnd schüttelte Charlotte den Kopf: „Das sagt man nur so. Was du da hörst, sind die Geräusche aus unserer Umgebung. Sie werden im Gehäuse der Muschel eingefangen und klingen wie Meeresrauschen.“

„Habt ihr ausgepackt? Sollen wir essen gehen?“ Justus stand in der Tür und sah beide fragend an. „Jaaa, ich will zu „Anton“, sagte Emma. „Anton“ war das Schnell-Restaurant mit guter deutscher Hausmannskost zwei Straßen weiter. Charlotte grinste: „Gute Idee. Dahin können wir laufen.“ Bei „Anton“ ergatterten sie den letzten freien Tisch. Justus und Charlotte entschieden sich für Frikadellen im Speckmantel, Emma für Schnitzel mit Pommes Frites und extra viel Majo. Nachdem der Kellner die bestellten Getränke an ihren Tisch gebracht hatte, nahm Justus sein Weinglas in die Hand und prostete Charlotte zu: „Du hast mir gefehlt“, sagte er unvermittelt und schaute zärtlich in ihre Augen. Charlotte, die seinem Blick auswich, entging die Sehnsucht. Sie hörte nur einen Vorwurf in seinen Worten und schlagartig war ihre gute Laune verfolgen. Sie zuckte mit den Schultern. „Es hätte dir gefallen.“

„Mhm“, sagte sie und schob sich ein Stück Frikadelle in den Mund. Wenn er ihr jetzt vorrechnete, was ihre Absage gekostet hatte, dann würde sie schreien. Ihre zurückhaltende Reaktion verletzte ihn und ohne weiter darüber nachzudenken, sagte er: „Wir haben quasi 1.500 Euro weggeschmissen“, nur um irgendeine Reaktion zu provozieren.

Ihren Entrüstungsschrei erstickte sie mit einem Schluck Mineralwasser. Eine Weile redete niemand. Als Charlotte merkte, dass ihr Puls wieder auf der üblichen Frequenz pochte, sagte sie: „Das Seminar hat mir sehr geholfen. Ich habe einige Bewerbungen verschickt.“

„Das hättest du auch noch später machen können“, sagte Justus, den ihre kühle Art immer noch ärgerte und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. Hatte er denn gar nichts begriffen? Energisch schüttelte sie den Kopf: „Hätte ich nicht. Und jetzt will ich nicht mehr darüber reden.“ Damit er verstand, dass sie das ernst meinte, runzelte sie die Stirn, stach mit der Gabel in die Frikadelle, als wolle sie sie töten. „Wie du meinst“, sagte Justus und zerknüllte seine Serviette. Damit war die entspannte Stimmung hin. Sie schauten aneinander vorbei und redeten ausschließlich mit Emma.

Doch als der Kellner die Teller vom Tisch abräumte, fing er ihren Blick auf. Sehnsucht nach den unkomplizierten gemeinsamen Zeiten stieg in Justus hoch. Seine rechte Hand zuckte nach vorn, um Charlotte eine Haarsträhne, die in die Stirn gefallen war, zurückzustreichen. Doch als er in Charlottes abweisende Miene blickte, unterdrückte er mit aller Macht den Impuls. Er liebte sie. Innig und wahrhaftig. Aber seit einer ganzen Weile erreichte er sie nicht mehr. Panik stieg in ihm auf. Hilflos und unglücklich schaute er auf ihre Hand, an der ihr goldener Ehering glänzte. Er hätte sie so gerne berührt.

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