Episode 4 – Das Labyrinth der Charlotte Reimann

Ein Roman von Mira Steffan

Lächelnd folgte sie ihrer Anweisung und schaute zu ihr hoch. Ihre kinnlangen, blonden, fransig geschnittenen Haare umrahmten ihr ovales Gesicht und verliehen ihm einen weichen, femininen Ausdruck. Mit ihren dunkelblauen Augen zwinkerte ihre Mutter ihr zu: „Papa kommt auch gleich. Er sitzt am Schreibtisch.“

Seit seiner Pensionierung engagierte sich ihr Vater in der Kommunalpolitik. Das hatte ihn schon immer interessiert. Aber als Prokurist in einem großen Bekleidungsunternehmen fehlte ihm früher die Zeit. Jetzt war er sachkundiger Bürger im kommunalen Wirtschaftsausschuss.

Als ihre Mutter gerade den Kaffee ausschenkte, schwang die Tür auf. Mit seinen 1,90 Meter und guten 95 Kilogramm füllte ihr Vater den Türrahmen fast vollständig aus. „Meine Tochter“, warm und laut erklang seine tiefe Stimme. Er breitete die Arme aus, und sie flog hinein in die Geborgenheit. Ein herzhafter Kuss landete auf ihrer Wange. Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch, und Charlotte fühlte sich zurückkatapultiert in die sorglose Kinderzeit ohne Verantwortung und Selbstzweifel. „Wie geht es Emma?“ fragte ihr Vater, während er zur Kanne griff, die auf dem Tisch stand, und in alle drei Tassen Kaffee einschenkte.

Das war eindeutig Charlottes Lieblingsthema und stolz plauderte sie los: „Sie ist bei ihrer Freundin Eva. Die beiden verstehen sich richtig gut. Ihre Lehrerin erzählte mir, dass sie auch in den Pausen ständig die Köpfe zusammenstecken. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich schon in der Grundschule eine beste Freundin hatte.“ Ihre Eltern schüttelten nachdenklich den Kopf. „Du hast viel mit den Nachbarskindern gespielt“, sagte ihre Mutter, „eine beste Freundin hast du erst seit dem Studium. Apropos. Was macht eigentlich Susanne? Habt ihr euch wieder am Samstag getroffen?“

„Ja, haben wir“, sagte Charlotte und grinste schief, „sie macht immer noch Karriere und wollte mich überreden, wieder als Controllerin zu arbeiten.“ Ihr Vater horchte auf und schaute sie aufmerksam an: „Und? Was hast du gesagt?“ Charlotte zuckte mit den Schultern: „Es ist so lange her, dass ich berufstätig war. Das lässt sie aber als Argument nicht gelten. Sie hat mir ein Auffrischungsseminar empfohlen und Stellenangebote in die Hand gedrückt.“ Ihre Mutter legte ihre rechte Hand auf Charlottes linke: „Du weißt, wenn du Hilfe für Emmas Betreuung brauchst, musst du nur was sagen. Ich mache das sehr gerne. Seit meiner Pensionierung fehlt mir die tägliche Herausforderung im Umgang mit Kindern“, setzte sie seufzend hinzu. Charlottes Mutter hatte als Grundschullehrerin gearbeitet und war sehr beliebt gewesen. Charlotte nickte dankbar: „Ich weiß. Das ist total lieb von dir. Im Moment traue ich mir das aber nicht zu.“

„Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen. Die Idee finde ich gut. Schließlich hast du einen guten Uni-Abschluss und lange in einer leitenden Position gearbeitet“, sagte ihr Vater. „Ja, stimmt“, sagte Charlotte trübsinnig und wechselte das Thema. Nach zwei Stunden löste sie sich widerwillig aus der Behaglichkeit ihres Elternhauses. Gern wäre sie länger geblieben, aber Emma wartete. Im Auto drückte sie automatisch auf den Radioknopf. Eine schrille Frauenstimme plärrte ihr entgegen und pries ein Möbelgeschäft an. Schaudernd stellte sie die Lautstärke auf stumm. Glaubten die Auftraggeber dieses Spots ernsthaft, dass eine solche Tonlage zum Kauf animierte? Charlotte schüttelte sich. Grässlich. Sie würde auf jeden Fall keinen Fuß über die Schwelle des Geschäftes setzen.

Als Emma und Charlotte nach Hause kamen, war es still. Kein Justus. Irritiert schaute Charlotte auf ihre Armbanduhr. 20 Uhr. Seltsam. Sie schickte Emma zum Händewaschen ins Badezimmer und rief ihren Mann an. Die Mailbox sprang an. Gedankenverloren kochte sie das Abendessen, während Emma auf dem Küchenstuhl saß und mit ihren Buntstiften ein Bild malte. Nach dem Essen brachte sie Emma ins Bett und machte es sich in dem Ohrensessel im Wohnzimmer mit einem Buch bequem. Aber richtig konzentrieren konnte sie sich nicht auf die Geschichte. Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab. Gegen 21:30 Uhr hörte sie ein Rappeln an der Haustür. Justus hantierte mit seinem Schlüssel. Sie klappte das Buch zu und ging ihm im Flur entgegen. „Wo kommst du denn her? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil ich dich nicht erreichen konnte.“

Justus zog in aller Ruhe seine Schuhe aus und hängte seinen Mantel in die Garderobe. Erst dann blickte er in ihre Richtung und sagte betont gelassen: „ Hallo Charlotte. Das habe ich dir doch gesagt. Wir hatten noch ein Treffen mit einem Kunden.“ Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass Justus das erwähnt hatte, aber sein distanziertes Verhalten erschreckte sie. Deswegen nickte sie und fragte: „Magst du was essen?“ Justus schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin nicht hungrig, nur sehr müde. Ich gehe direkt ins Bett. Schläft Emma schon?“

„Sie wollte lesen. Vielleicht ist sie noch wach.“ Justus schlurfte die Treppe hoch wie ein alter Mann. Sie schaute ihm nach und augenblicklich machte sich in ihr ein schlechtes Gewissen breit. Der arme Mann plagte sich den ganzen Tag im Büro, um ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Da hätte sie doch etwas netter sein können. Ihre Eltern haben das doch auch hinbekommen. Sie würde so gerne eine gute und liebevolle Ehe führen.

Erschöpft zog sich Justus am Geländer Stufe für Stufe nach oben in den ersten Stock. Die Kinderzimmertür stand einen Spalt breit offen. Dahinter was alles dunkel. Enttäuscht schlurfte Justus ins Schlafzimmer. Die Müdigkeit machte seine Arme und Beine schwer. Mühsam befreite er sich von seinen Schuhen, der Krawatte, dem Anzug. Im Badezimmerspiegel sah er seine strengen, ernsten Gesichtszüge und die Sorgenfalten zwischen den Brauen. Wo waren seine Leichtigkeit und Lebensfreude geblieben. Er schloss seine brennenden Augen und blieb eine Weile so stehen. Als das Brennen nachließ, griff er seufzend zur Zahnbürste und Pasta. Fünf Minuten später lag er im Bett und war sofort eingeschlafen.

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