Illustration Susanne Gold, Text Steffi Maasland
Warum wir Zukunftsvisionen sammeln? Das kannst Du hier erfahren!
Ich sitze an der Kante unserer Zeit und schaue durch die Linse nach unten. Was ich da sehe, ist in der Tat immer wieder verblüffend. Die Menschen sitzen zusammen, trinken Tee und reden über Freundlichkeit und wie sie sich gegenseitig unterstützen können. Es wird von neuen Formen der Arbeit geplaudert, und über die Wichtigkeit von Kommunikation und gegenseitiger Wertschätzung gefachsimpelt.
Wenn die Menschen nach einem 2 Stunden-Tag voller Sinnfragen und Selbstverwirklichung erfüllt von der Arbeit nach Hause kommen, wird erstmal der Nachbar zurechtgewiesen, weil sein Hund noch immer kein veganes Dosenfutter bekommt und das Tier kein eigenes Zimmer hat.
Zum Abendessen, gibt es eine Bio-Gemüse-Pfanne, für die man die Zutaten im Discounter holt. Später werden hingebungsvoll die Klingen geschliffen, die am nächsten Tag hinter dem Schleier der Mitmenschlichkeit zwischen die Rippen der unliebsamen Mitbewerber um den Titel „Most Precious Human of the Year“ gleiten.
„Herrje, musst Du Dir das immer wieder angucken?“ fragt Luzi.
Obwohl…die guten alten Zeiten. Ach, ich werd‘ schon wieder melancholisch….“.Luzi hat sich von hinten angeschlichen, so wie sie es gerne macht. „Nur nicht provozieren lassen.“, denke ich. „Auch wenn sie es immer wieder versucht.“ Ich setze mein schönstes falsches Lächeln auf und drehe mich um. „Sie wünschen, Madame?“
Ihr heißer Atem schlägt mir ins Gesicht.
„Ich wollte mir Dein Retrometer ausleihen für meine Vintage-Party am Samstag. Damit kann ich dann ein paar Sequenzen von früher über den Lithium-Beamer laufen lassen. Das wäre der Knaller!“ meint sie.„Dafür erzähle ich Dir dann auch, was Mondi gestern gemacht hat.“, versucht sie mich zu locken.Ich überlege, ob das ein guter Deal ist und entscheide mich für eine Gegenfrage. „War er wieder voll?“ wage ich mich vor. „Nee, nur halb.“, antwortet sie.
„Ok, dann Feuer frei.“ sage ich. Luzi schmunzelt über meinen Kalauer und erzählt: „Also, Mondi hatte zusammen mit der ewig strahlenden Sonja die Idee, die Menschheit endlich mal wieder auf die Probe zu stellen.“ beginnt sie. „Oha, das klingt nicht gut!“, denke ich mir.
Dann erfahre ich, was passiert ist. Sonja hatte sich den ganzen Tag versteckt und Mondi nahm ihren Platz ein. Das hat die Menschen selbstverständlich massiv verwirrt. Ich sehe, dass Luzi der Gedanke daran köstlich amüsiert. Sie schlägt sich lachend auf die blanken Schenkel und kratzt sich hinter‘m linken Hörnchen. Ich zucke innerlich zusammen. Mir schwant Böses. Was, wenn die Leute eingeknickt sind?
Es war damals tatsächlich sehr anstrengend, die Menschen in ihrer Orientierungslosigkeit wieder auf Spur zu bekommen: Schweiß, Tränen, viele Tote
Vor allem das Zeitalter des Buzzword-Bingos war hart. Da zogen Mindset-Prediger durchs Land wie die Rattenfänger durch die Märchen. Obstkörbe galten als der heißeste Scheiß für die Sozial-Hygiene.Und nachdem man die meisten Influencer durch die Drehtüren der Leadership-Malls in die Wüste geschickt hatte, konnte man gar nicht so schnell gucken, wie sie getarnt als Corporate Influencer wieder reinkamen.
Die Welt war ein Haufen selbstverliebter Flöhe, die alle versuchten, einen Platz in der ersten Zirkus-Reihe zu ergattern, indem sie permanent mit nackten Fingern auf angezogene Leute zeigten. Es waren schlimme Zeiten.
„Hallo?!“ – Luzi stampft mit ihrem Pferdefuß lautstark auf den Boden. „Bist Du wieder in fernen Galaxien unterwegs? Hast Du mir überhaupt zugehört?“ fragt sie. Oh, Mist. Ich hatte ihr tatsächlich kein Bisschen zugehört. „Oder bist Du überhaupt nicht stolz auf Dich, dass Deine vielen Lehrstunden aus den letzten 100 Jahren scheinbar süße, reife Früchte tragen?“ fragt sie weiter.
Ich stehe auf. Ich muss ein paar Schritte gehen.
„Echt jetzt oder willst Du Dich über mich lustig machen?“ frage ich schüchtern. „Wenn Du nicht gedanklich abgeschweift wärst, dann hättest Du mitgeschnitten, was ich eben gesagt habe und gehört, dass Deine Menschen wirklich großartig sind.“, schimpft Luzi. „Kannst Du es nochmal sagen ?“, bitte ich kleinlaut.
„In meiner grenzenlosen Güte will ich mal nicht so sein.“ brummelt Luzi. Sie erzählt, dass, es unter den Menschen erstmal ganz still geworden ist, nachdem Mondi für alle völlig unverständlich tagsüber auf der Bildfläche erschien und Sonja dafür vollständig verschwand. Aber keiner habe geheult oder gejammert, stattdessen haben sich sofort alle hingesetzt und ein riesiges Plakat gemalt.
„Guck‘ mal da.“ sagt Luzi und zeigt nach unten.
Ich setze mich wieder an die Kante unserer Zeit und schaue dieses Mal am Retrometer vorbei nach unten. Ich muss meine Brille aufsetzen, denn hunderte von Jahren haben auch bei mir deutliche Spuren hinterlassen. Und dann sehe ich das Plakat:
„Keine Sorge, Liebe! Das wird uns nicht umbringen, wir haben ja Dich!“ lese ich.
Ich kann kaum atmen. Alle Last fällt auf einmal von mir ab. Ich drehe mich zu Luzi und gucke sie mit offenem Mund an. „Lass‘ gut sein, Schätzchen! Ist schon alles prima so, wie’s gelaufen ist.“, meint sie augenzwinkernd und fährt fort: „Seit wir uns nicht mehr dauernd streiten, habe ich endlich Zeit, mich auf Wichtiges zu konzentrieren, zum Beispiel auf meine Vintage-Party.“.
Luzi knufft mich kurz in die Seite und packt das Retrometer ein.
Dann geht sie los in Richtung Partyzelt und schaut nach ein paar Schritten nochmal über die Schulter zurück zu mir: „Du kommst doch auch am Samstag, oder?“