The Female Gaze

Text und Image von Corinna Heumann

The female gaze oder der weibliche Blick konzentriert sich auf die weibliche Perspektive des Körpers, der Sexualität, des sozio-politischen und kulturellen Umfelds. Es ist ein mitfühlender, sanfter und nach innen gerichteter Blick. Im Gegensatz dazu wird der männliche Blick als der sexualisierte Blick auf die Frau beschrieben, reduziert auf das Äußere, auf die besonders attraktive Erscheinung. Die Künstlerinnen des Kollektivs Athamé reflektieren neue Konzepte des weiblichen Blicks und überdenken die gesellschaftspolitische Definition von Gender im 21. Jahrhundert. Das Konzept des weiblichen Blicks von Joey Soloway interessiert sie besonders. Soloway will den Körper zurückerobern und ihn mit der Absicht einsetzen, Feeling Seeing zu kommunizieren.

Female Gaze versus Male Gaze

Der Begriff des männlichen Blicks wird erstmals 1975 von Laura Mulvey in ihrem Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema erwähnt. Der weibliche Blick ist jedoch kein Filter, durch den man die oft schwarz-weiße, von Männern definierte Realität in lila-, rosa- oder regenbogenfarbenen, feministischen Schattierungen sehen möchte. Auch trägt die Kunst von Frauen nicht zwangsläufig einen erkennbar weiblichen Stempel, wie manche Künstlerkollegen gerne behaupten. Letztere halten ihren männlichen Blick für selbstverständlich objektiv, zuweilen für den Stand der Kunst schlechthin. Folglich klassifizieren, sexualisieren, bewerten und entwerten sie bisweilen. Das alte Spiel um Autorität, Deutungshoheit und Macht geht auf einer anderen Bühne weiter, auch wenn die Gleichberechtigung der Frau im künstlerischen Schaffen inzwischen unbestritten ist.

Warum wird ein gewisser feministischer Exotismus immer noch mit dem weiblichen Blick in Verbindung gebracht? Warum dominiert der männliche Blick weiterhin unseren Kulturraum, obwohl die großen Protagonistinnen der Kunstgeschichte gründlich erforscht, ihre Kunst aus dem Schatten der Vernachlässigung geholt, in Museen beleuchtet und weltweit beachtet werden?

Glücklicherweise ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts glasklar bewiesen, dass Künstlerinnen das gleiche Auge haben und genauso begabt sind wie ihre männlichen Zeitgenossen. Sie sind gleichermaßen in der Lage, alle künstlerischen Techniken zu studieren und erfolgreich als Ausdrucksmittel anzuwenden.

Weibliche und männliche Welterfahrung

Tatsache ist aber auch, dass die persönliche Entwicklung der Künstlerinnen und Künstler von Gender nicht unbeeinflusst bleibt. Die kreative Persönlichkeit findet ihren natürlichen künstlerischen Ausdruck in Kunstwerken. Dabei müssen die grundlegenden Unterschiede in der männlichen und weiblichen Welterfahrung berücksichtigt werden. Individuelle Wahrnehmungen, Erwartungen und Hoffnungen im Leben übertragen sich bewusst oder unbewusst auf kreative Prozesse. Sie hinterlassen ihre sichtbaren Spuren. Die bildende Kunst ist das Instrument der Reflexion und Resonanz, der Resonanzkörper des vielschichtigen Zeitgeistes, nicht banales Material zur Bewertung und Einordnung nach intransparenten Regeln.

Der Blick 

Nach der allgemeinen Definition aus dem Internet ist der Blick die Summe der Wahrnehmungen eines Individuums von anderen Individuen, anderen Gruppen oder von sich selbst. In der kritischen Theorie, der Philosophie, der Soziologie und der Psychoanalyse umfasst er auch eine bestimmte Perspektive, die bestimmte Aspekte einer Beziehung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten verkörpert. 

In der Kunst erregt die Beziehung zwischen MalerIn und dem in der Regel weiblichen Aktmodell besondere Neugierde. In den 1980er Jahren stellen die Guerrilla Girls die Frage: Müssen Frauen nackt sein, um in das Met. Museum zu kommen? Weniger als 5 % der Künstler in den Abteilungen für moderne Kunst sind Frauen, aber 85 % der Aktmodelle sind weiblich. Das Plakat ist heute ein Klassiker.

In der kunsthistorischen Analyse sind die Werke der italienischen Barockmalerin Artemisia Gentileschi wegweisend für den weiblichen Erfahrungshorizont und dessen Darstellung. Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen interpretiert sie biblische Frauengestalten mit einer individuellen wahrhaftigen Ausdruckskraft in Haltung und Gestik, die sie bereits im 16. Jahrhundert weltberühmt macht. Die meisten Susannas und Judiths ihrer Kollegen wirken dagegen eher nur dekorativ und blutleer. Dennoch geriet Artemisia Gentileschi über Jahrhunderte in Vergessenheit. 

Üblicherweise assoziieren wir das Verhältnis des weiblichen Blicks in Bezug auf den männlichen Blick mit den, von Männern dominierten soziokulturellen Strukturen. Dort wird die Frau in Abhängigkeit vom Mann definiert. Man wird nicht als Frau geboren. Man wird es. One ne naît pas femme. On le devient. – schreibt Simone de Beauvoir 1949 in Paris. Sie erschüttert die Sichtweise auf Das andere Geschlecht in ihren Grundfesten. In ihrer Studie formuliert sie ein progressives, befreites weibliches Selbstverständnis mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Stellvertretend für unzählige Frauen hat Joey Soloway kürzlich erklärt: Mein Drehbuch, meine Kamera, meine Worte, mein Blick. Soloway führt damit den Beauvoirschen Paradigmenwechsel in die neuen Räume der aktuellen Diskussion um nicht-binäre Selbstbestimmung. Nicht-binär meint hier ein Lebenskonzept der Nicht-Zuordnung zum binären Raster von männlich, weiblich und seinen Variationen, sozusagen Gender-Non-Conforming.

Gender-Non-Conforming 

Joey Soloway ist preisgekrönte amerikanische ProduzentIn, FilmregisseurIn und AutorIn. Das Thanksgiving Paris Manifesto, das 2016 zusammen mit Eileen Myles verfasst wurde, inspiriert die Künstlerinnen und Künstler des Kollektiv Athamé besonders. Ein Blick auf Soloways persönlichen und kreativen Werdegang zeigt, wie sich Gender und künstlerische Kreativität gegenseitig bedingen, um kreatives Denken zu befreien. Es eröffnen sich nicht nur neue Wege der Lebensgestaltung, sondern auch neue Perspektiven auf unsere Welt. Seit dem 26. Juni 2020 nennt sich Soloway Joey, vormals Jill Soloway. Außerdem bestehen sie – die weibliche und der männliche Soloway – auf einem emphatischen Blick in die Welt als Gegensatz zu einem klassifizierenden: Ich mag es sehr, wenn sich unsere Inhalte auf den ersten Blick selbst zu widersprechen scheinen. An einem Tag posten wir vielleicht etwas über Sexismus oder den männlichen Blick, am nächsten Tag etwas, das als zu sexy oder anzüglich angesehen werden könnte, aber es kommt von einer weiblichen Autorin oder Künstlerin, also ist es relevant. Wir lieben die Konversation und fühlen uns nicht so sehr darauf angewiesen, auf einem bestimmten Standpunkt zu beharren. Soloways Konzept des Feeling Seeing stellt also Empathie über eine vermeintlich objektive Meinungsäußerung.

Empathie als dynamisches Gestaltungsprinzip – durch die Augen ins Herz….

Ein Bild, das durch die Augen ins Herz dringt (..) und sich anschickt, alles zu überfluten? Horst Bredekamp beschreibt in seiner jüngst erschienenen Biographie von Michelangelo anhand eines Gedichtes den proteischen Eros seiner revolutionären Künstlerpersönlichkeit in Verbindung mit seiner Panempathie als hochmodernes Konzept der Bildgestaltung. Bredekamp nimmt diesen Aspekt zum Anlass, Michelangelos Werk neu zu denken. Demnach richtet sich Michelangelos Panempathie keineswegs nur auf Personen, sondern auch auf Kunstwerke, die Natur, Tiere und alles Schöne im Allgemeinen. Der Begriff der Panempathie verbindet nach Bredekamp Pan, die Gottheit einer umfassend wünschenswerten Natur, mit der Empathie, die ebenfalls keine Stabilität oder Grenzen kennt und keine vorrangigen Werturteile akzeptiert, weil sie eine grundsätzliche Veränderbarkeit als Prinzip begreift. 

Ambiguität und Selbsterkenntnis

Nur Mehrdeutigkeit kann die konkurrierende Dualität der binären Interpretation von Gender kreativ überwinden. Die Wandelbarkeit des schöpferischen Ichs spiegelt sich in der emphatischen Selbst- und Weltsicht und seiner kreativen Verarbeitung wieder. Reinterpretation und Reimagination schaffen einen neuen sozio-kulturellen Kontext. Neue Bildschöpfungen entstehen.

Die Reise der Heldin

In Soloways Schriften über die Reise der Heldin ist das dominierende Thema die Wiederherstellung des gespaltenen Weiblichen: die Ehefrau und die andere Frau, die sich gegenüberstehen – die Mutter, die Stripperin.. Ich glaube, dass es bei der Reise der Frauen wirklich darum geht, diese Art von gespaltenen Teilen von uns selbst zu reparieren. Und diese Spaltung in unserer Kultur, die meines Erachtens für so vieles verantwortlich ist, was in unserer Kultur ein Problem darstellt.

Kreative Räume grenzenloser emphatischer Vorstellungskraft

Nur im multiperspektivischen Spiel wird Kunst lebendig. Die Künstlerinnen des Kollektivs Athamé reflektieren in ihren kreativen Prozessen das erfühlte Sehen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern. Ihre emphatischen Perspektiven überwinden vereinfachende Blickwinkel und starre Deutungen von Sinnzusammenhängen. Auf diese Weise vervielfältigen sich die experimentellen, von sozialen Konstrukten befreiten Sichtweisen in immer neue Bedeutungen. Unerschrockenheit und Furchtlosigkeit vor dem Überraschenden, dem Anderen oder gar der entgegengesetzten Weltsicht sind grundlegend für die Überwindung von Geschlechterrollen und ebenso grundlegend für die künstlerische Entwicklung. Über das Fühlende Sehen (Feeling Seeing) setzen sich die Künstlerinnen mit sich und der Welt auseinander und begeben sich auf eine zärtliche und kraftvolle Reise in die kreativen Räume grenzenloser emphatischer Bilderwelten.

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