Text und Bild von Corinna Heumann
Kultur als Lebenselixir oder Kultur als Lebensmittel – der bekundeten Wertschätzung zum Trotz wird Kultur häufig als eigentlich überflüssiger Kostenfaktor gesehen, als unterhaltsame Privatangelegenheit zum Zeitvertreib, als interessante therapeutische Maßnahme oder Spielwiese für PolitikerInnen, die gerne Festreden halten. Brauchen wir Kultur? Man scheint den Versuch zu unternehmen, einen kontroversen und komplexen Begriff irgendwie ökonomisch pragmatisch oder bürokratisch anwendbar einzufangen. Oder er wird politisch instrumentalisiert.
Die Frage, ob wir Kultur brauchen, bleibt eine rhetorische: Kultur ist immer da präsent, wo Menschen leben, wo Regeln und Gesetze des Miteinanders entstehen und legitimiert werden müssen. Im Kulturschaffen kommt es auf unser Menschenbild an und darauf, welches Potenzial wir für unsere Zukunft sehen.
Lebendige Kultur ist vielgestaltig und immer im Wandel
In der Tat sind die in Europa üblichen Konnotationen des Begriffs Kultur weder abschließend zu definieren, noch können ihre Produkte dauerhaft gleichbleibend bewertet werden. Kultur ist vielgestaltig, wandelbar, überraschend und oft verkannt. Kulturschaffende arbeiten im Herzen des sozialen Zusammenhalts und tragen nicht nur zu Diversität und Toleranz bei, sondern auch zu Europas Regenerationsfähigkeit nach der Pandemie und zu seiner langfristigen Resilienz. Im kulturellen Geschehen einer Gesellschaft wird ihr zugrunde liegendes Menschenbild permanent neu verhandelt. Von der Streitkultur zur Leitkultur – Kultur ist über ihr gesellschaftspolitisches Identifikationspotential hinaus das Verstehen und Ordnen einer Welt, die oft als Chaos empfunden wird. Offensichtlich besteht Bedarf an Kultur. Die Ausgaben für kulturelle Güter stiegen EU-weit pro Haushalt um 12 % (2010 bis 2015).
Kulturpolitik bildet die gesellschaftliche Realität ab
In der historischen Erfahrung ist Kulturpolitik oft mit ökonomischer Ausbeutung, Ikonoklasten und Autokraten verbunden. Man rufe sich nur den römischen Kaiser Nero, die Kulturrevolution in China oder die kulturelle Gleichschaltung der NS-Zeit in Erinnerung. Schon Attraktionen, wie das Schloss von Versailles oder die Pyramiden in Gizeh, waren nur durch Leibeigene, beziehungsweise Sklaven zu bewerkstelligen. Wichtige Teile der Sammlungen renommierter Museen sind geraubt. In der kulturpolitischen Szene fehlt bis heute eine klare glaubwürdige gesamteuropäische Positionierung zu historischer Aufarbeitung, Provenienzforschung und konsequenter Restitution.
Initiativen mit dem Ziel, historische Ereignisse, die unheilbare Wunden hinterlassen haben, zumindest symbolisch wiedergutzumachen, werden oft immer noch ausgebremst. Demgegenüber werden große Energien dafür eingesetzt, Kostenexplosionen bei Prestigebauten zu rechtfertigen, in neo-feudalistischer Manier Jurys zu besetzen und Preise zu verleihen. Die Festgesellschaft bleibt unter sich. Sie erfreut sich an ihren zahnlosen Bekenntnissen zur westlichen Wertegemeinschaft und ihrer vermeintlichen Vorbildfunktion. Gleichzeitig werden Kunstschaffende, MusikerInnen und SchauspielerInnen wie ehemals Taglöhner bezahlt. Oft dürfen sie sich nur über die Ehre freuen, ihre Talente unentgeltlich zu zeigen. Nicht nur die Dächer der Schulen sind undicht und Sporthallen ungeheizt, sondern es fehlt allenthalben an PädagogInnen und zeitgemäßen Lernmitteln für kulturelle Bildung im Zeitalter der Digitalisierung.
Kulturpolitik als Quadratur des Kreises
Die Mitte der Gesellschaft schrumpft und mit ihr die Mehrheit der kulturaffinen BürgerInnen. Kultur wird immer mehr zum Ehrenamt und ist auf Spenden angewiesen. Kulturschaffende sind häufig in mehreren Jobs unterwegs. Es scheint weder Bemühungen zu geben, das Gender-Pay-Gap aufzulösen, noch Führungspositionen weiblich zu besetzen, obwohl der Frauenanteil in Kulturberufen deutlich höher liegt. Die Chancengleichheit nimmt ab. Die Pandemie verstärkt diese Entwicklung. Kommunale Kassen sind bis auf weiteres leer. Dabei wird ignoriert, dass der wirtschaftliche Ertrag im Kultursektor in den letzten Jahren an Bedeutung stetig zugenommen hat. Mit einem Umsatz von 643 Mrd. EUR und einem Mehrwert von 253 Mrd. EUR im Jahr 2019 machten die Kernaktivitäten der Kultur- und Kreativindustrien (KKI) 4,4 % des BIP der EU aus, gemessen am Gesamtumsatz. Damit ist der wirtschaftliche Beitrag der KKI größer als der von Telekommunikation, Hochtechnologie, Pharmazeutik oder Automobilindustrie. Seit 2013 sind die Gesamteinnahmen der KKI um 93 Milliarden Euro und damit um fast 17 % gestiegen. In der EU-28 beschäftigten die KKI Ende 2019 mehr als 7,6 Millionen Menschen, und sie haben seit 20 Jahren rund 700 000 (+10 %) neue Arbeitsplätze geschaffen, darunter Autoren, Künstler und andere Kreative. – Rebuilding Europe : the cultural and creative economy before and after the COVID-19 crisis, EY 2021
Kulturpolitik als Querschnittsaufgabe
Kulturelle und zunehmend interkulturelle Bildung sind Grundlagen unserer demokratischen europäischen Öffentlichkeit in allen Bereichen. Alle Macht geht vom Volk aus – müsste man nicht beispielsweise von Jean-Jacques Rousseau und seinem Gesellschaftsvertrag gehört haben, um den Wert des Konzepts vom aufgeklärten Bürger und seinen Freiheitsrechten zu verstehen? Und müßte man nicht auch wissen, dass eine Zeitgenossin Rousseaus, Olympe de Gouges, geköpft wurde, weil sie den Geltungsbereich der Menschenrechte auf die Frauen erweitern wollte? Unzählige begabte Menschen schöpfen aus den Erkenntnissen der Aufklärung den Mut zum gesellschaftlichen Aufstieg. In der europäischen und globalen Gesellschaft verschwimmen heute aufgrund einer in weiten Teilen der Gesellschaft selbstverständlichen Mehrsprachigkeit die Grenzen zwischen kultureller und interkultureller Bildung. Die Internationalität der Kunsthochschulen in Deutschland zeigt sich besonders in den Fächern Malerei und Bildhauerei mit ca. 40 % ausländischen Studierenden.
Kulturpolitik befaßt sich mit der Qualität des Lebens und Denkens über die Tagesaktualität hinaus. Ihre Wirkungsweise entfaltet sich erst in der Zukunft zu voller Blüte. Mit dem Blick auf Vergangenheit und Zukunft ist Kultur gesellschaftliches Miteinander. Hier findet der friedfertige Austausch aller Teile der Gesellschaft statt. Alteingesessene diskutieren mit Zugezogenen, Jungen, Alten… Realisten tauschen sich mit Utopisten aus, PhysikerInnen, DichterInnen mit ProgrammiererInnen und HafenarbeiterInnen, InstrumentenbauerInnen mit FirmenchefInnen, UberfahrerInnen und isolierte ‚lost souls‘ aus den durchalgorithmisierten Echokammern ihrer Ichs treten mit den LeiterInnen von Großprojekten, Medienhäusern, der Abfallwirtschaft und vielen weiteren in Kontakt.
Unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei der Kultur um eine Querschnittsaufgabe handelt, wurde vom Deutschen Kulturrat im Jahr 2019 die Kultur- und Kreativwirtschaft im ländlichen Raum analysiert, im Jahr 2018 wurde die Kultur- und Kreativwirtschaft als Impulsgeber für die Gesamtwirtschaft in den Blick genommen. In den Vorjahren wurden folgende Schwerpunktthemen behandelt: Arbeit und Qualifikation (2017), Internationalisierung (2016), Innovationen (2015), Digitalisierung (2013) sowie Europa (2012).
Die kulturelle Weiterentwicklung einer europäischen Öffentlichkeit erfordert zudem eine visionäre klimaneutrale demokratische Architektur mit der entsprechenden technologischen Ausstattung für Veranstaltungsformate für den multiperspektivischen, heterogenen und multikulturellen Austausch über eine gemeinsame Zukunft. Verlassene Industrieruinen, leerstehende Bürogebäude und in die Jahre gekommene, renovierungsbedürftige Theatergebäude in den Zentren der Städte böten sich beispielsweise zum Umbau in multifunktionale, zu allen Tageszeiten nutzbare, kulturell zukunftsweisende Räume für alle Teile der Stadtgesellschaft an. Hervorheben sollte man Initiativen und Themen, die sich mit Transparenz, digitaler Ethik und den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Auswirkungen intransparenter Algorithmen, Urheberrechten, Klimaneutralität und Steuergerechtigkeit befassen.
Kunst hat eine kathartische Kraft, die eine Gesellschaft nach einer Pandemie auf dem Weg zur Resilienz begleiten kann. Kunst ist kein Accessoire, sie ist ein Viaticum. Kunst ist nicht „politisch“, sondern „poetisch“ – eine schöpferische Kraft, die uns belebt und es uns ermöglicht, zusammenzuleben und zu überleben, individuell und kollektiv. – David Sassoli, Präsident Europäisches Parlament
Europäische Soft Power
Unter Soft Power versteht man die immateriellen Werte einer Gesellschaft, die aufgrund von kultureller Attraktivität Anziehungskraft entfalten und geteilt werden (Joseph Nye). Die EU hat als Wertegemeinschaft für den friedlichen Einigungsprozess 2014 den Friedensnobelpreis erhalten. Ihr kulturelles Erbe gilt als tragende Säule ihrer Weiterentwicklung zur ersten supranationalen Organisation der Geschichte. 2017 erzielte die EU beim Export kultureller Güter einen Aussenhandelsbilanzüberschuss. Sie exportierte kulturelle Güter für 28,1 Milliarden Euro, im Gegensatz zu Kulturimporten im Wert von 19,5 Milliarden Euro.
Nach Aussage der Reporter ohne Grenzen führt die Mehrzahl der EU Staaten im Bereich der Medienfreiheit weltweit, trotz der problematischen Entwicklungen in einigen Osteuropäischen Ländern. Eine moderne europäische Kulturpolitik muss auf der Durchsetzung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedsstaaten und an ihren Grenzen bestehen. Die europäische Musikszene ist international ebenfalls außergewöhnlich erfolgreich. In der Architektur wurden europäische Architekten in den 42 Jahren seiner Existenz insgesamt 19 Mal mit dem Pritzker Preis ausgezeichnet.
Nach dem Global Soft Power Index 2021 befinden sich zwei EU Mitgliedstaaten Deutschland (1) und Frankreich (7) unter den ersten 10 international ausgewählten Ländern. Allerdings bestehen Bedenken, dass die Wirkung der europäischen kulturellen Soft Power als Folge eines globalen Abstiegs als technologische Führungsmacht in der nächsten Dekade nachlassen wird.
Die Zukunft liegt in unserer Hand
Der erhobene Zeigefinger eines Lehrer Lämpel, moralinsauere Belehrungen und Weltuntergangsbeschwörungen als Dauerberieselung sind unglaubwürdig geworden. Damals wurde die Ignoranz der Adressaten vorausgesetzt. Heute ermöglicht es der technologische Fortschritt, sich Zugang zum fehlenden Wissen in Bruchteilen von Sekunden zu schaffen.
Daher hat eine zukunftsweisende europäische Kulturpolitik in erster Linie dafür zu sorgen, dass ökonomische Einzelinteressen, die den demokratischen Meinungsbildungsprozessen einer Wissensgesellschaft zuwiderlaufen und diese langfristig zerstören, auf allen Ebenen der europäischen Gesellschaft konsequent unterbunden werden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft muss ertüchtigt werden, ihren ästhetischen und ethischen Beitrag zur Weiterentwicklung einer lebendigen europäischen Öffentlichkeit zu leisten. Neue Technologien werden nicht nur von Experten auf ihr zugrundeliegendes Menschenbild hin überprüft, sondern müssen auch in einer breiten europäischen Öffentlichkeit diskutiert werden, bevor sie eingesetzt werden.
Die Conference on the Future of Europe sollte als europaweites Projekt, das allen BügerInnen eine individuelle Stimme gibt, in jeder einzelnen Kommune besonders gefördert werden: Die jeweiligen Kommunalverwaltungen entwickeln in Kooperation mit den lokalen Kulturschaffenden interdisziplinäre analoge, digitale und hybride Formate. Eine aufgeklärte lebendige europäische Öffentlichkeit könnte sich damit ein Stück vom Paradies in ihre Mitte holen.
Ein großartiger und erschreckend treffender Beitrag von Dir liebe Corinna. Danke dafür!