Terraismus Teil I (10/52 – Terraismus)

Ilustration von Susanne Gold/ Text von Ted Ganten
In diesem Film erfährst du mehr über „Terraismus“.

Welche Regeln hätten wir auf unserem Raumschiff Erde, wenn wir das gemeinsame Ziel verfolgen würden, den Weltraum zu besiedeln.

Humanismus

Wir dürfen in unserem Gedankenspiel die derzeit geltende Ethik auf dem Planeten vorurteilsfrei hinterfragen. Bei aller Hochachtung für die Aufklärung und dem daraus abgeleiteten Humanismus scheint es mir an der Zeit zu diskutieren, ob die Optimierung des Wohlergehens und der Entwicklung des Einzelnen weiterhin der Königsweg ist. Wie Yuval Harari klar beschreibt, hat sich der Humanismus von einem Bildungsideal zu einer Religion, einer Weltanschauung entwickelt. Darauf zu verweisen, das Wohl des Einzelnen sei nicht Fundament einer Entscheidung, grenzt an ein Sakrileg. Der einzelne Mensch ist heiliges Zentrum dieses Kultes. Individualismus wird von Staaten und dem liberalen Wirtschaftsumfeld gepredigt. Jeder ist aufgerufen, sich selbst in seinem Umfeld zu optimieren. Die Wirtschaft hat die Nachfrage der Kunden zum Maßstab für Erfolg erhoben. Eine florierende Wirtschaft nutzt möglichst vielen Einzelnen und ist damit in demokratischen Gesellschaften Zielgröße des Erfolges nationalstaatlicher Politik. Diese Orientierung der Unternehmen, des Marktes und der Staaten am Einzelnen auf unterschiedlichen Ebenen ist völlig unabhängig von den Folgen für unseren Planeten.

Warnhinweis

Zugegebenermaßen haben gerade wir Deutschen mit stärker gemeinschaftsorientierten Gesellschaftskonzepten wie dem Dritten Reich und dem real praktizierten Kommunismus in den letzten Jahrzehnten schlechte Erfahrungen gemacht. Das muss aber nicht heißen, dass die Idee per se schlecht ist. Ohne eine starke Gemeinschaftsorientierung hätte sich die Menschheit nie bis zur Gegenwart behaupten und entwickeln können. Vom Rudel, über Dorfgemeinschaften, immer größeren Staaten und Religionen bis hin zu Konzernidentitäten hat das Individuum geschichtlich oft sein eigenes Interesse dem gemeinsamen Ziel opfern müssen. Das war nicht immer freiwillig. Über die Jahrtausende betrachtet sind hieraus jedoch viele der menschlichen Kulturleistungen hervorgegangen. Es ist jetzt an der Zeit, der Tatsache in die Augen zu schauen, dass wenn wir jede*r ihre/seine Selbstverwirklichung insoweit ermöglichen wollen, als sie/er keinen anderem Individuum direkt schadet, wir uns in eine Sackgasse begeben: Wir können Nahrungsmittel besser verteilen, Gesundheitsstandards weltweit verbessern, Krankheiten ausrotten, den Wohlstand, Energieverbrauch und Konsum weltweit heben – am Ende schieben wir nur den Zeitpunkt heraus, zu dem die Ressourcen auf unserem Raumschiff erschöpft sind.

Erhalt des Raumschiffs „Erde“: Prio 1

Dies führt zu schwierigen ethischen Abwägungen und Entscheidungen, um die wir aber logisch nicht mehr lange herumkommen. Zu orientieren hat sich die neue Ethik am Erhalt des Planeten Terra. Dies widerspricht nicht einer möglichst freien Entfaltung der darauf lebenden Individuen. Der Erhalt des Planeten ist jedoch eine bisher kaum beachtete Grenze. Ökologische Bewegungen der Gegenwart wollen Humanismus UND Umweltschutz. Lösen aber den darin liegenden Widerspruch nicht auf. Interessanterweise ist zumindest in Deutschland zu beobachten, das politisch gesteigertes Umweltbewusstsein stark mit diskriminierungsfreiem, gesteigertem Humanismus (Betonung der individuellen Freiheit) korreliert. Ich plädiere nicht für radikale, diskriminierende, menschenverachtende Lösungen – im Gegenteil! Ich denke, wir müssen jetzt die angemessenen und ausgeglichenen strategischen Weichen stellen, um am Ende nicht in einer Sackgasse zu landen, in der ethisch vertretbare Lösungen nicht mehr möglich sind.

Der neue Imperativ

Die zu entwerfende Ethik kann ohnehin nicht schwarz-weiß zeichnen. Denn eine Ethik, die zeitlich Bestand halten soll, muss berücksichtigen, dass wir in naher Zukunft unterschiedliche transgene Menschen und Menschmaschinen, wahrscheinlich auch künstliche Intelligenzen mit unterschiedlichen Qualitäten auf der Erde haben werden. Sie muss skalierbar und dehnbar sein. Der kategorische Imperativ Kants: „Ein jeder handle so, dass sein Wille zugleich zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte“, geht vom Individuum aus und setzt diesem die Freiheit anderer Individuen als Grenze. Hier fehlt die Abwägung mit dem Erhalt des Planeten. Der Idee des Terraismus folgend, könnten wir wie folgt formulieren:

Ein*e jede*r handle so, dass ihr/sein Wille zugleich zur Grundlage weltweiter Regeln dienen könnte, welche die Bewohnbarkeit der Erde nachhaltig sichern und diskriminierungsfrei der/dem Einzelnen ihre/seine Entfaltung im Rahmen ihrer/seiner Möglichkeiten zu erlauben, soweit dies nicht mit den Interessen anderer Lebewesen kollidiert.

Nächste Woche werfen wir mehr Licht auf die Frage, was das für unser Wertesystem, unser Miteinander und unseren Alltag bedeutet.

Kommentare

One comment on “Terraismus Teil I (10/52 – Terraismus)”
  1. Detlev Ganten sagt:

    Super Manifest!!

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