Zwei ungleiche Freunde – Die Welt in hundert Jahren

Illustration Susanne Gold, Text Simon Boehncke

„Kann mir jemand sagen, wie der Unix Befehl lautet, den man benötigt, um ein Verzeichnis zu erstellen?“, fragt die Lehrerin.


Malte meldet sich und buchstabiert: „mkdir“.

Isaak rollt die Augen. Er hasst allgemeine Informatik. Die Tatsache, dass sein bester Freund Malte ein Genie auf dem Gebiet ist, macht es nicht besser. Das Fach, in dem Isaak am besten ist, ist Politik. Es ist ihm wichtig, denn es bestimmt das gesellschaftliche Zusammenleben und den Alltag des Einzelnen. Programmieren kann sowieso jeder.


Nach dem Informatikunterricht beginnt Sport. „Sag mal, wie oft die Woche gehst du eigentlich zur Zeit ins Gym für so einen Körper?“ fragt Isaak Malte in der Umkleide. „Schon ab und zu. Immer wenn ich Lust hab halt“, kommt die schwammige Antwort.

Die Fußballpartie ist ausgeglichen, doch Isaaks Team besiegt knapp das von Malte. Koordination ist Maltes Schwäche, deshalb ist Fußball eine der wenigen Sportarten, in denen er Isaak nichts vormachen kann.


Die beiden haben sich zu Beginn der Oberstufe kennengelernt, kurz nachdem Malte in die Stadt gezogen ist. Sie teilen ihre Leidenschaft für Sport und haben den selben Humor.

Die Freunde befinden sich mitten im Abistress, was Isaak mehr zusetzt als Malte. Isaak beschäftigt sich neben der Schule viel mit Politik, ist Mitglied in einer Jugendpartei, arbeitet für diese Stellungnahmen aus und organisiert Demonstrationen gegen „absolute Digitalisierung und den Ersatz von Menschen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch KI; künstlicher Intelligenz“.

Am heutigen Nachmittag nimmt Isaak Malte erstmals mit in den Altbaukeller seiner Jugendpartei, der als Treffpunkt dient. Es wird darüber debattiert, wie sich die Partei bezüglich des bevorstehenden Volksentscheides über den Einsatz von menschenähnlichen Robotern als pädagogische Fachkräfte, die Kinder erziehen oder Schulklassen unterrichten können positioniert. Die Jugendlichen sitzen in einer Runde um einen kleinen Tisch mit Snacks, jeder von ihnen sein Tablet in der Hand.

Die Diskussion entwickelt ein Konfliktpotenzial.

Malte steigt ein. „Ich denke, der Einsatz der Roboter würde dem überforderten Bildungssystem guttun. Außerdem ist die KI fehlerfrei, im Gegensatz zu den Lehrern, deren Fehler wir alle aus unserem Unterricht kennen.“


Er scheint einige der jüngeren Mitglieder überzeugt zu haben, sie stimmen ihm nickend zu. Isaak hingegen erwidert mit geladener Stimme: „Wie kannst du so etwas sagen, Malte? Unter keinen Umständen ist ein Roboter in der Lage, den Wert einer menschlichen, pädagogischen Fachkraft zu ersetzen.

Gerade in sozialen Berufen, wie dem Lehrer- oder Erzieherberuf sind menschlich Qualitäten wie Empathie zwingend erforderlich!“
Die jungen Erwachsenen können sich aufgrund einer fehlenden Dreiviertelmehrheit nicht auf eine Position einigen und vertagen das Thema. Verärgert über Maltes Ansichten, geht Isaak nach Hause, ohne sich von ihm zu verabschieden.


Um sich von dem nervenaufreibenden Tag zu erholen streamt Isaak einige Folgen seiner aktuellen Lieblingsserie auf seinem Hologramm.

Zwischen zwei Folgen ist er gezwungen einen Werbespot über die brandneue Generation Sexroboter zu schauen, die dem Menschen zum Verwechseln ähnlich sind. Verblüfft über die menschliche Erscheinung und das menschliche Verhalten der Roboter, googelt Isaak den Hersteller.

Dieser wirbt damit, dass seine Sexroboter einen menschlichen Partner komplett ersetzten können, denn sie sehen nicht nur aus wie Menschen, sondern imitieren auch deren Intellekt.

Sie lassen sich individuell auf den Besitzer kalibrieren und haben somit einen angepassten Humor und Fachwissen in den Gebieten, in denen es dem Besitzer oder der Besitzerin beliebt. Für viel Geld kann man auch individuelle Körper anfertigen lassen, die von den standardisierten, perfekten Körpern der Ausstellungmodelle abweichen.

Ein absurder Gedanke kommt Isaak in den Sinn. 

Er vertreibt ihn und schaut weiter seine Serie. Doch als er später versucht einzuschlafen, lässt ihn der Gedanke nicht mehr los. Wie ein nicht kratzbares Jucken sitzt er in seinem Hinterkopf. Er steht auf, macht seinen PC an und beginnt zu recherchieren.


Am nächsten Morgen vor der Schule trifft er Malte und sie machen sich trotz der Meinungsverschiedenheit am Tag zuvor gemeinsam zu Fuß auf den Weg. Nach einiger Zeit stellt Isaak ihm eine Frage: „Malte, kennst du das Heinz-Dilema?“ Malte verneint.


„Okay, pass auf. Folgendes Szenario: Heinz hat eine todkranke Frau, die er sehr liebt. Sie liegt im Krankenhaus und wird in den nächsten Tagen sterben, wenn sie nicht ein spezielles, sehr teures Medikament bekommt.

Heinz und seine Frau haben aber zu wenig Geld, um es zu kaufen. Soll er in die Apotheke einbrechen und es klauen?“ Trocken antwortet Malte: „Nein, das ist ja illegal.“ 

Isaak hegt einen Verdacht

Er macht Malte einen Vorschlag: „Lass uns ein witziges Spiel ausprobieren, wir spielen das in der Jugendpartei.

Immer wenn wir uns etwas nicht Zerbrechliches zu werfen und der andere es fängt, darf der Werfer dem Fänger einen kleinen Schlag auf die Schulter geben.“ Malte entgegnet: „Das stelle ich mir nicht lustig vor.“„Ach komm schon, gib der Sache eine Chance.

Es tut auch kaum weh, nur ein leichter Schlag“, sagt Isaak und haut Malte exemplarisch auf die Schulter. „Komm, probier’s mal aus.“, fordert er ihn auf und hält ihm die Schulter hin. Doch Malte weigert sich: „Nein, das möchte ich nicht.“

In Isaaks Kopf fügen sich die Puzzleteile zusammen.

Es macht alles einen Sinn. Der perfekte Körper mit wenig sportlichem Aufwand, die schlechte physische Koordination, das ausgeprägte Fachwissen auf so vielen Gebieten ohne nennenswerten Lernaufwand, die politischen Ansichten und überhaupt Maltes Verhalten.

Wie konnte er all die Anzeichen über so lange Zeit hinweg übersehen?

Mit ruhiger Stimme fragt Isaak: „Du kannst mich gar nicht schlagen, stimmt’s?“
„Ja.“
„…weil du eine KI bist und das gegen dein Skript verstoßen würde.“

Kommentare

1 comments on “Zwei ungleiche Freunde – Die Welt in hundert Jahren”
  1. Dieter Hannemann sagt:

    Schulklassen mit 25 Schüler-innen und einen Lehrer wird es hoffentlich nicht mehr lang geben. Hier wird nicht Wissen vermittelt, sondern Anpassung, Gruppendruck sorgt dafür, das kaum jemand seine besonderen Begabungen entdecken und fördern kann. Was hängen bleibt ist etwas dürftiges Grundwissen, unbrauchbares Fachwissen ohne Zusammenhang und das jeder Markenklamotten tragen muss und alles mitmacht was angesagt ist um dazu zu gehören.

    Schule ab 2025…30 = jeder lernt personenbezogen nach individuellen stärken am heimischen Laptop, sowie in Freundes-Gruppen, wirklich für das Leben und nicht für Zensuren, Abschlüsse! Kein zurückgebliebener Schüler langweilt mit ewigen Fragen, jeder bekommt alle Unterstützung und verschiedene Lernmöglichkeiten angeboten. Aber nicht nur Schüler, jeder der möchte kann auf die KI-Lehrer zugreifen und sein Wissen erweitern.

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