Es ist normal, verschieden zu sein

Eine Netzgeschichte von Reingard Eberle

Vor wenigen Wochen war ich auf Besuch in der Geburtenstation unseres Krankenhauses

Meine liebe Arbeitskollegin hat 18. 7. ihr erstes Kind geboren. Ein Sohn.

Die Geburt war nicht ganz ohne Komplikationen und leider auch etwas traumatisch für Mutter und Kind. Es dauerte etwas, bis sich beide soweit erholt hatten, dass sie besucht werden konnten. Daher waren am darauffolgendem Wochenende dementsprechend viele Besucher im Krankenhaus.

Natürlich wurde auch über die Geburt gesprochen und die junge Mutter war dann auch so ehrlich, dass sie sich insgeheim ein Mädchen gewünscht hatte, aber natürlich ist die Freude über das hübsche kleine Bübchen sehr groß. Logisch.

Bei solchen Gelegenheiten kommt dann der unvermeidliche Satz: „Hauptsache gesund …“

So auch an diesem Tag. Und er trifft mich mitten ins Herz. Immer noch. Nach mittlerweile 28 Jahren. Hauptsache gesund, ja klar! Wer wünscht sich kein gesundes Kind, oder? Aber …  wenn das neu geborene Kind nicht gesund ist?  … oder eine Behinderung hat?

Unser zweiter Sohn Thomas wurde am 8. 3.1990 mit Spina bifida geboren.

Wir haben damals vor der Geburt von der bevorstehenden Behinderung unseres Sohnes erfahren. Im siebten Schwangerschaftsmonat wurde die Spaltung des Rückenmarks festgestellt.

Gleich in der ersten Stunde nach der Diagnose stand Abtreibung im Raum. Auch obwohl ich bereits im 7. Monat war. Dazu muss man wissen, dass ein Kind mit Behinderung gesetzlich bis zum Schluss der Schwangerschaft abgetrieben werden darf.

Die Diagnose war ein Schock für uns. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine Ahnung davon, was Spina bifida oder ein „offener Rücken“ heißen soll.

Worte wie Hydrozephalus, Mehrfachbehinderung, geistige Behinderung, nie sitzen können, nie laufen können usw.

hat man wohl schon mal gehört, aber das sind doch immer die anderen … das betrifft doch niemals einen selber. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht, aber wir haben uns für unseren Sohn entschieden und die Schwangerschaft ausgetragen.

Am 8. 3.1990 um acht Uhr in der Früh kam unser Sohn mit Kaiserschnitt auf die Welt.

Das vermeintliche und erhoffte Wunder ist nicht eingetreten.

Mein Sohn hatte am Rücken eine große Blase in der Lendenwirbelgegend. Seine Beinchen waren ganz dünn und kaum ohne Muskulatur ausgebildet. Unser erstes Kind war damals knapp über zwei, ich 25 Jahre alt und mit der gesamten Situation total überfordert.

Auf der Geburtenstation wurde ich von den anderen Wöchnerinnen total separiert untergebracht.

Man wollte mir wohl die anderen Mütter mit den gesunden Babies nicht zumuten, oder ich Ihnen, wer weiß? Zurückblickend habe ich mich nie mehr so alleine und hilflos gefühlt, wie damals im Krankenhaus. Die ersten drei Monaten musste Thomas im Brutkasten verbringen.

Aus meiner anfänglichen Überforderung ist sehr bald ein unwahrscheinlicher Kampfeswille geboren.

Ich habe meinen Sohn nicht in einer „beschützen Werkstätte“ gesehen, sondern als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Zu meinem bzw. unserem Glück gab es damals gerade die Bewegung anderer Eltern von Kindern mit Behinderungen die sich zusammenschlossen, um für die Integration ihrer Kinder zu kämpfen.

So auch ich. Über 10 Jahre war ich unter anderem auch Obfrau des Vereins in unserem Bundesland. Thomas war von Beginn an immer integriert in der Kleinkinderbetreuung, Kindergarten, Volksschule wie auch dann später in der Hauptschule.

Die Inklusion meines Sohnes war nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge.

Es wäre nicht ehrlich, wenn ich rückblickend nicht bekennen müsste, dass wir oft genug am Rande unserer Belastbarkeit angelangt wären. Unsere Ehe blieb nach acht Jahren auf der Strecke und wir gingen ab diesem Zeitpunkt getrennte Wege. Aber trotz allem Schmerz hat es sich gelohnt. Mein Sohn führt heute trotz Rollstuhl ein absolut eigenständiges Leben.

Wie könnte mit diesem Thema in Zukunft umgegangen werden?

Zugegeben, die Arbeit in der Inklusion von Menschen mit Behinderung in den letzten 30 Jahren ist nicht ohne Spuren vorbei gegangen und es hat sich vieles zum Besseren verändert.

Es ist aber eine stetige Arbeit, die nicht vernachlässigt werden darf.

Die Vorstellungen der Welt der „Nichtbehinderten“ zur „Behinderten“ ist noch nicht dieselbe.  Noch zu oft werden die Ansichten der „Nichtbehinderten“ den Menschen mit Behinderung aufgedrückt und übergestülpt. Die Mehrzahl der Menschen mit Behinderung werden in Sondereinrichtungen untergebracht, die Zahl der Kinder mit Behinderung in öffentlichen Schulen bleibt jährlich gleich hoch, Tendenz eher absteigend. Noch immer werden neun von zehn ungeborene Kinder mit der Diagnose Behinderung abgetrieben.

  • Ich wünsche mir eine Zukunft in der jedes Kind, egal ob gesund oder krank, egal ob mit einer Behinderung in welcher Art auch immer geboren werden darf.
  • Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der „so stark wie ihr schwächstes Glied“ nicht nur leere Floskeln, sondern zur gelebten Tradition reift.
  • Ich wünsche mir immer mehr Erwachsene, die sich ihr kindliches Vertrauen und Neugier in die Andersartigkeit eines jeden Menschen erhalten kann.
  • Ich wünsche mir eine Welt, in der jeder Mensch so sein kann, wie er ist. Egal welche Hautfarbe, egal welche Herkunft und egal welche Behinderung. Jeder ist auf seine Art, was er ist: ein Mensch.

…. und vielleicht verliert in 100 Jahren die Diagnose „ihr Kind wird mit einer Behinderung auf die Welt kommen“ ihren Schrecken …

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