Ein Roman von Mira Steffan
Nervös schaute Charlotte immer wieder auf ihre Armbanduhr. In 45 Minuten musste sie Emma vom Klavierunterricht abholen. Und Schuster lieferte sich gerade ein Streitgespräch mit Horst Alt über die unnötige Anschaffung einer Spritzgussmaschine. Ihr Vater war in einer Ausschusssitzung, Justus auf einer Fachtagung. Sie trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte. Die Männer brüllten sich an. Da gab es keine Möglichkeit, dazwischen zu gehen. Okay, sie brauchte 20 Minuten für den Weg. Sie konnte also noch 25 Minuten dem Spektakel beiwohnen. Der große Zeiger auf ihrer Uhr rückte unerbittlich weiter. Charlotte blickte zur Digitaluhr neben der Tür. Auch dort verging die Zeit unaufhaltsam. Noch 20, 15, zehn, zwei Minuten. Polternd schob Charlotte ihren Stuhl zurück. Aufgeschreckt durch dieses laute, schabende Geräusch, hielten die Streithähne inne.
„Meine Herren. Es tut mit leid. Ich muss los. Meine Tochter wartet auf mich“, sagte Charlotte, griff nach ihrem Handy und ihren Unterlagen und verließ den Sitzungsraum. Im Hinauseilen nahm sie Schneiders zufrieden feixendes Gesicht wahr und hörte Schuster ausrufen: „Was! Spinnt die, wir sind doch noch nicht fertig. Sie kann doch nicht einfach die Sitzung verlassen.“
Mit einem schlechten Gewissen lief sie weiter, schnappte sich, in ihrem Büro angekommen, ihren Mantel und verließ eilig das Gebäude.
Als sie vor der Musikschule vorfuhr, stand Emma schon draußen und wartete, eingepackt in ihrem dicken Mantel mit Schal und ihren Handschuhen. Und schon wieder hatte Charlotte ein schlechtes Gewissen. Ganz klar, sie war eine Rabenmutter. Emma öffnete die hintere Autotür und kletterte ins Auto.
„Hallo Schatz, wartest du schon lange?“
Emma schüttelte den Kopf: „Ich bin gerade erst rausgekommen.“
Charlotte atmete auf: „Wenn wir zu Hause sind, koche ich uns einen heißen Kakao mit ganz viel Schlagsahne oben drauf. Und dann hören wir uns eine von deinen Hexe-Lilli-CDs an.“
Begeistert schlug Emma ihre behandschuhten Hände zusammen und strahlte über das ganze Gesicht.
„Schau mal. Du musst deine Hand so halten“, sagte Julia und demonstrierte die richtige Haltung.
Charlotte machte Julia nach und zog dann einen Strich: „Du hast Recht. Jetzt funktioniert es auch.“
Nach einer Weile wortlosen Arbeitens sagte Charlotte: „Bei dir sieht das Zeichnen so einfach aus. Dein Stift scheint das Blatt kaum zu berühren.“
„Glaube mir. Das sieht nur so aus.“
„Na, auf jeden Fall erkenne ich auf deinem Blatt auf dem ersten Blick eine Birne. Meine Birne sieht eher aus wie ein abgestürzter Grashüpfer.“
Julia lachte herzhaft: „Du musst nicht immer so streng mit dir sein.“
Charlotte zog den rechten Mundwinkel und die Augenbrauen nach oben: „Es stimmt aber.“
Nach zwei Stunden Unterricht, verließen sie gemeinsam das Gebäude.
„Bis nächste Woche“, sagte Julia und wandte sich dem dunklen Pfad zu, der zur Hauptstraße führte.
„Holen dich deine Eltern nicht ab?“
„Heute leider nicht.“
Charlotte dachte nicht lange nach: „Komm, ich fahr dich nach Hause.“
„Wenn das kein Umweg für dich ist.“
„Kein Problem. Ich fahre dich. Schließlich kann ich dich doch nicht alleine durch die Dunkelheit laufen lassen.“
„Vielen Dank, Charlotte.“
Charlotte nickte lächelnd, öffnete mit der Fernbedienung die Autotüren und gemeinsam stiegen sie in den Wagen.
„Weißt du, ich beobachte dich schon eine ganze Weile beim Zeichnen. Du bist wirklich gut, und ich hoffe, dass du in Berlin auf die richtigen Leute triffst, die dein Talent fördern,“ sagte Charlotte, als sie durch den Abend fuhren.
„Das ist lieb von dir.“
„Ich sage nur die Wahrheit.“
Beladen mit ihrem Laptop, zwei Akten und ihrer Handtasche stapfte Charlotte den Flur zu ihrem Büro entlang. Von Weitem sah sie Schneider mit Ricarda Baldus flirtend mitten im Gang stehen. Sie lief auf sie zu, in der Annahme, dass sie ihr Platz machen würden. Doch das taten sie nicht. Entnervt blieb Charlotte vor ihnen stehen und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen und in einem betont höflichen Ton: „Darf ich bitte vorbei?“
Schneider blieb wie angewurzelt stehen und guckte mit einem arroganten Blick auf die kleine Lücke zwischen Wand und ihm.
Der erwartet doch wohl nicht, dass ich mich an ihm vorbeiquetsche, dachte Charlotte, und blieb ihrerseits wie angewurzelt stehen bis Ricarda Baldus ihre Position aufgab und Charlotte den Weg zu ihrem Büro frei machte.
„Vielen, herzlichen Dank. Das ist überaus freundlich“, sagte sie ironisch, obwohl sie innerlich vor Wut kochte.
Als sie ihre Sachen auf ihrem Besuchertisch abgelegt hatte, bemerkte Charlotte, dass Schneider ihr gefolgt war.
„Was wollen Sie?“, blaffte sie ihn verdrießlich an.
„In Ihrem Investitionsplan kommen Sie zu dem Ergebnis, dass wir keine neue Spritzgussmaschine benötigen.“
„Quatsch. Ich habe verschiedene Varianten vorgestellt und durchgerechnet.“ „Das habe ich aber anders verstanden.“
„Dann sehen Sie sich bitte meinen Plan noch mal richtig durch.“
„Das habe ich getan. Ich verstehe es aber trotzdem nicht.“
Charlotte riss der Geduldsfaden: „Herrgott, haben Sie BWL studiert oder nicht?“
Doch Schneider ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern biss sich an dem Thema fest wie ein Pitbull in der Wade eines Menschen „Muss ein Investitionsplan nicht verständlich geschrieben sein? Ist das nicht wichtig?“
Charlotte wurde jetzt laut: „Herr Schneider, was wollen Sie von mir?“
Schneider grinste frech: „Ich mein ja nur“, sagte er und trollte sich.
Als Charlotte ihm nachblickte, sah sie, dass er der Grüntal eine Kusshand zuwarf. Charlotte hörte ihre Sekretärin albern kichern.
Es war die letzte Stunde ihres Zeichenkurses. Als Abschlussarbeit sollten sie einen Gegenstand malen, der ihnen viel bedeutete. Charlotte hatte sich für die Darstellung mehrerer Pinsel und Bleistifte entschieden, Julia für ihre Katze. Charlottes Bild wurde zwar von ihrem Zeichenlehrer gelobt, aber sie war ehrlich zu sich. Die Pinsel hatten Krümmungen, die die Originale nicht aufwiesen und bei den Bleistiften stimmten die Proportionen nicht. Dafür gefiel ihr Julias Bild umso besser. Eine schwarz-weiße Katze lag geheimnisvoll und majestätisch wie die Sphinx auf einem Sofa. Obwohl realistisch gemalt, erinnerte das Bild an Pop Art und Comiczeichnungen. Immer wieder sah Charlotte auf die Katze.
„Es ist toll. Das würde meiner Tochter gefallen“, sagte Charlotte und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Würdest du es mir verkaufen?“
Julia rieb ihre Nase und verzog den Mund: „Mhm, eigentlich wollte ich es in meinem Zimmer aufhängen.“
„Ich würde es gerne meiner Tochter zum Geburtstag schenken. Ich gebe dir 200 Euro.“
„Wow, echt jetzt?“
Charlotte nickte nachdrücklich.
„Gut, dann verkaufe ich es dir. Wenn es fertig ist, bringe ich es bei dir vorbei.“
Nachdenklich fuhr Charlotte nach Hause. Die Erkenntnis deprimierte sie: Sie war nicht gut genug als Malerin. Es reichte, wenn überhaupt, zum Hobby. Das musste sie sich eingestehen. Sie hatte sich was vorgemacht. Die Realität hatte ihr eine Ohrfeige verpasst. Sie schaute auf die Straße. Der Abend war schwarz wie Teer, der von den Scheinwerfern ihres Autos durchschnitten wurde. Ihre Welt schien ihr so trist und öde wie die Winterwelt draußen. Sie liebte die bildende Kunst. Sie konnte sie allerdings nicht erschaffen. Und ein Experte war sie auch nicht. Sie fühlte sich so leer wie….Charlotte suchte nach einem treffenden Vergleich und just fiel ihr ein Satz ein, den sie kürzlich in einem Artikel gelesen hatte…so leer wie die Unterhose eines Eunuchen. Sie lachte laut auf. Und in ihrem Inneren ging wieder ein Licht an.