Ein Roman von Mira Steffan
Die Arbeit war eine Ablenkung, in die Charlotte sich vergrub. Sie kümmerte sich um Emma soweit das ihre Arbeit zuließ, hatte Sex mit Justus, ging zu Einladungen, lächelte, plauderte, redete und fühlte: nichts. Ein riesiger Ziegelstein aus Eis hatte sich in ihrem Inneren ausgebreitet. Doch sie funktionierte. Irgendwie und immer weiter.
Zärtlichkeit floss durch sie hindurch und machte ihr Inneres weit und weich. Ein alles überwältigendes Gefühl. Und darin eingebettet die Stimme ihrer Mutter. Sie streichelte und beruhigte sie, flüsterte liebevoll. Der Eisklumpen in ihrem Inneren schmolz. Und alle Farben, die es gibt, explodierten.
Nur widerwillig nahm Charlotte das schrille, penetrante Geräusch wahr. Nur langsam sickerte die Realität in ihre Gedanken. Der Wecker. Sie hatte geträumt. Ohne die Augen zu öffnen, fand sie den Schalter und der Lärm hörte auf. In ihrer Kehle brannten Tränen. Eine fiel auf ihr Kopfkissen. Mehr nicht. Mehr konnte sie nicht zulassen. Sie hieß den Ziegelstein aus Eis willkommen.
Ihr Geburtstag. Der erste ohne ihre Mutter. Pauline hatte ein Geburtstagsessen für sie organisiert. Nichts Großes. Nur ihre Familie und Susanne mit ihrem Mann und den Söhnen. Charlotte sah all die lieben Menschen, die sich so viel Mühe gaben, sie zu feiern. Sie wollte sie nicht enttäuschen. Doch es strengte sie an, fröhlich zu sein. Viel lieber wäre sie mit ihrem Kummer allein geblieben. Und sie glaubte zu erkennen, dass es ihrem Vater ebenso erging. Pauline dagegen wirkte aufgedreht, lachte schrill und redete zu laut. Charlotte wünschte sich, dass sie mit dem Getue aufhören würde. Wie schön wäre es, wenn sie zusammen trauern könnten, sich in den Arm nähmen und den Schmerz teilen würden.
„Tante Charlotte, schau mal, Mama hat dir deinen Lieblingsnachtisch gemacht“, ihre Nichte Marie reichte ihr eine Schüssel Vanillepudding mit frischen Erdbeeren.
Augenblicklich schämte sich Charlotte für ihre negativen Gedanken. Sie blickte zu ihrer Schwester, erkannte den erwartungsvollen, unsicheren Blick und auch die Zuneigung. Sie lächelte ihr zu: „Ich danke dir für alles.“
Pauline lächelte erfreut zurück.
„Nicht der Rede wert“, sagte sie, erhob ihr Glas und fuhr fort: „auf das Geburtstagskind.“
Ungefähr zwei Wochen später blickte Charlotte auf das Buch, das Susanne ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Ein Ratgeber über seelische Schmerzen. Achtlos hatte sie es ins Regal gestellt. Sie strich über den Einband, nahm es in die Hand und ließ die einzelnen Blätter über den Daumen laufen. Sie sah das Wort Schmerzskala und hielt inne.
„Auf einer Schmerzskala von eins bis zehn, wo liegt dein Schmerz“, las sie.
„Bei 100“, sagte Charlotte laut und spürte den Kummer, der in ihr hochsteigen wollte wie eine Sturmflut. Mit aller Macht stemmte sie sich dagegen und zog die Mauer, die ihr bisher geholfen hatte, alles zu ertragen, blitzschnell wieder hoch und legte den Eisklumpen davor. Jetzt fühlte sie sich wieder seltsam leer. Gut so.