Dauerwelle der Kunst – Oder ist Kunst eigentlich Abfall?

Illustration und Text von Kim Kluge

Jeder Schaffensprozess beginnt mit einer Eingebung, einem Zufall, einer Idee. Sie kann inhaltlicher oder formaler Natur sein. Plötzlich ist sie da! Fliegt mir zu und ich ergreife sie. Woher kommt sie eigentlich? Wer ist der Urheber? Kommt sie von Außen oder von Innen? Sie taucht einfach so auf vor meinem geistigen Auge. Nach Eingang einer Inspiration beginnt das Experiment. Mit Material und Formenvielfalt. Ausprobieren, was passiert, wenn…. Ideen sprudeln und…bekommen viele Kinder. Der künstlerische Arbeitsprozess ist aktiviert. Ein „run“ auf das perfekte Werk geht los. Materialerkundung, Formation, Deformation, Verwerfung. Jeder künstlerische Prozess beinhaltet auch die Zerstörung allzu gefälliger Sequenzen, die das Werk ermatten lassen bis hinein in die Beliebigkeit eines rein dekorativen Aktes. Das Werk, egal wie abstrakt, soll eine Geschichte erzählen. Ohne Worte. Die Freude von Kunstschaffenden liegt im Schaffensprozess selbst.

Es gibt zwei Existenzen ein und desselben Werkes. Es ist Baby und Abfall eines künstlerischen Prozesses zugleich. Auf der einen Seite steht der Produzent, der „Creator“, auf der anderen der Konsument, der „Consumer“. Für Künstler und Künstlerinnen besteht das eigentliche Werk im Aufbau. Wenn es fertig ist, gibt es, wenn alles gut läuft ein AHA! Erlebnis. Eine Art Euphorie nach einem schwierigen Geburtsprozess. Die meisten Künstler und Künstlerinnen erzeugen im Lauf ihrer unzähligen Schaffensperioden sehr viele solcher „Neugeborenen“. Zu einer Geburt aber müsste ja auch die Elternschaft gehören. Doch hier endet die Arbeit im Grunde genommen. Urheber und Urheberinnen geben, wenn es mit dem Verkauf gut läuft, sofern sich also Eltern finden, ihre Babys einfach weg! 

Das Produkt künstlerischen Schaffens ist so gesehen wohl ein Abfallprodukt? Fragezeichen, Ausrufezeichen! Natürlich tauschen wir das Ergebnis eines künstlerischen Prozesses gegen Geld. Für Müll müssten wir ja bezahlen. Aber wer würde sein Baby verkaufen? Nur Rabeneltern oder Eltern in existenzieller Not tun so etwas! Sind wir Künstlerinnen und Künstler also alle Rabeneltern oder existenziell Notleidende, die ihre kostbaren süßen schnuckeligen Babys fort geben?

Oder wird das Werk erst dann wirklich zum Baby und damit als Kunstwerk vollkommen, wenn es in die liebenden Arme eines Kunstliebhabers aufgenommen wird? Ist es mit Weggabe aus der künstlerischen Hand einfach Abfallprodukt eines künstlerischen Prozesses? Oder doch beides? Baby und Abfall in einem? Was dem einen sein Abfallprodukt, ist dem anderen sein Lieblingswerk.

Während für kreativ schaffende Menschen die Arbeit mit Fertigstellung endet, beginnt sie beim Kunstliebhaber mit Erhalt des neuen Werkes. Diese Arbeit ist so ganz anders. Man nimmt auf, lässt auf sich wirken, schaut es immer wieder an und erhält immer neue Eindrücke. Betrachter und Werk treten in Kommunikation miteinander. Die Existenz des Kunstwerks regt zu neuen Prozessen an. Unsere Gesellschaft und Wirtschaft wird durch die abstrakten Prozesse der Kunst inspiriert und ermutigt, neue Wege durch unwägbares Gelände banaler konkreter Herausforderungen zu gehen. Insofern ist Kunst natürlich kein Müll. Denn Müll wollen wir doch lieber loswerden als ihn in unseren Museen auszustellen.

Man könnte den künstlerischen Prozess auch als eine Art Dauerwelle betrachten. Eine Dauerwelle von Werden und Vergehen. Eine Dauerwelle des Erzeugens und Loslassens. Kunstschaffende machen vor wie es geht, sich nicht an irdische Dinge zu klammern. Kunst als eine Art Recyclingprodukt. Der Abfall des künstlerischen Gedankens wird durch die Präsentation an einer Galerie- oder Museumswand wiederbelebt. Was für Kunst-schaffende quasi durch neue Prozesse schon wieder überholt ist, erstrahlt bei dem Betrachter in neuem Glanz. Er wird immer einen anderen Blick auf das Werk haben als der Künstler/ die Künstlerin selbst. So bekommt das Thema Abfall eine neue Dimension. Wir erklären unseren Hausmüll einfach zur Kunst. Und der zwanghafte Wunsch, alles verschwinden zu lassen, was uns nicht gefällt, wird transformiert in ein neues Denken über unerwünschte Reste unserer Existenz. So betrachten wir im Hinblick auf Klimawandel und Zerstörung unseres Lebensraumes unsere Altlasten in einem neuen Licht. Im Licht künstlerischer Abstraktionsprozesse. Die Dauerwelle der Kunst kann ein Wegweiser sein, unseren Abfall nicht nur zu recyceln. Wir könnten unseren Hausmüll auch lieben lernen.

Kommentar verfassen