Geschichte, wie Sie in der Zukunft gelehrt wird – Die Welt in 100 Jahren

von Markus Götz

„Wie die Welt in 100 Jahren aussehen wird, gehört für mich zu den spannendsten Fragestellungen überhaupt. Ich denke, das kann sich niemand mit Sicherheit vorstellen“, eröffnete Gösmar Kutz, Professor für interplanetarische Geschichte, seinen Unterricht. „Vor 100 Jahren war das Leben der Menschen noch sehr einfach, und wie einfach muss ihnen erst das Leben ihrer Vorfahren 100 Jahre zuvor erschienen sein.“

Die Studenten saßen in großen Kreisen um ihn herum. Kutz stand in der Mitte, doch nun schritt er zum Pult, seinem technisch voll ausgestatteten Arbeitsplatz, während er weitersprach.

Die Vergangenheit aus der Zukunft betrachtet

„Die wenigsten Menschen hatten vor 200 Jahren ein Auto, und diese flogen damals noch nicht. Sie fuhren auf Rädern über den Boden und wurden mit hochexplosivem Treibstoff angetrieben. Sie fuhren natürlich auch nicht von selbst, sondern mussten per Hand und Fuß gesteuert werden. Das klingt kompliziert, zugegeben, aber im Gegensatz dazu, einen modernen Mondcruiser zu bedienen, war das ein Kinderspiel“, lachte der Professer und fuhr fort: „Ein gigantisches Netz aus Wegen wurde benötigt, damit diese sich durch die Landschaft bewegen konnten. Dieses Netz wurde bis vor 100 Jahren noch massiv ausgebaut und raubte der Natur immensen Raum.“

Der Professor aktivierte mit einer Handbewegung in der Luft den holographischen Projektor, welcher die beschriebene Entwicklung in der Mitte des Studienraumes durch eine dreidimensionale, animierte Simulation darstellte. Im Zeitraffer überzogen mehr und mehr Straßen die virtuelle Landschaft vor den Augen der staunenden Studenten.

„Die ersten Menschen kommunizierten über Telefon“, erzählte Kutz und fügte amüsiert hinzu: „Damit wurde lediglich Sprache übertragen, kein Bild. Vor 100 Jahren begann dann allmählich die Kommunikation via Bildübertragung, jedoch auf flachen Bildschirmen. Die holografische Projektion ist damit noch eine recht neue Technologie.“

Damals erschien vieles normal, was heute undenkbar geworden war

Professor Kutz machte eine weiter Handbewegung über seinem Pult. Die virtuelle Landschaft verblasste und wurde ersetzt durch eine Szenerie, in welcher ein Liebespaar unter einem großen Baum saß.

„Die Unterhaltungsindustrie hatte die Bildübertragung längst für sich entdeckt“, beschrieb Kutz dazu. „Vor 100 Jahren nannte man es noch Fernsehen, und praktisch jeder verbrachte täglich Zeit damit, aber auch dies fand damals auf flachen Bildschirmen statt.“

Die jungen Studenten lachten, ein paar schüttelten dabei ungläubig den Kopf.

„Sie alle sind hier, weil Sie dies lernen wollen“, rief der Professor dankbar aus. „Doch auch die Bedarfsbildung ist eine Errungenschaft der heutigen Zeit. Sie können heute wirklich genau das lernen, was sie wollen und für ihr berufliches Ziel auch tatsächlich benötigen. Zudem besitzen Sie in vielen Bereichen die Freiheit der selbstverantwortlichen Wissensaneignung. Ich selbst wurde noch genötigt, mich mit der Weltliteratur auseinanderzusetzen, als ich mein Studium der Informatik begann.“

Ein allgemeines Murmeln in den Reihen der Studenten zeugte von deren Unverständnis.

„Wir nannten es damals Bulimielernen“, ergänzte Professor Kutz und sorgte damit für ausgiebiges Gelächter.

Mit der Zukunft kam die Freiheit

„Obwohl zu meiner Zeit schon das Internet auf der ganzen Welt drahtlos über Satelliten und Fernsendestationen zusammengeschlossen war, habe ich noch lernen dürfen, wie man Daten durch Kabelleitungen schickt“, setzte Kutz noch einen drauf. Stimmen wurden im Saal laut.

„Genau“, bestätigte der Professor einige Kommentare aus den vorderen Reihen, „die Quantencomputer von heute haben für diese Technik überhaupt keine Schnittstellen mehr.“

„Aber was beklage ich mich“, rief er, schaltete die holografischen Projektoren aus und trat wieder in die Mitte des Raumes. „Das Grundeinkommen ermöglichte mir bereits, überhaupt zu studieren. Anderenfalls wäre ich wohl einer der letzten Fließbandarbeiter geworden.“

Dieses Mal machte sich bestürztes Schweigen im Raum breit.

„Ja“, lachte Kutz, „heute arbeiten die Maschinen für unser Überleben und unseren Wohlstand. Es ist noch nicht lange her, da mussten die Menschen das noch selber tun. Heute leben wir in einer Zeit, in der die Roboter für uns zu fremden Planeten fliegen und Rohstoffe abbauen. Wer, glauben Sie, hätte das im letzten Jahrhundert tun sollen, wenn es möglich gewesen wäre?“

Der Landeanflug wird eingeleitet

Das Armband des Professors gab einen freundlichen Ton von sich. Auch in den Reihen der Studenten piepten Armbänder und Taschencomputer.

„Für heute ist der Unterricht beendet“, erklärte Professor Kutz. „Ich bitte Sie nun, ihre Schutzräume aufzusuchen. In einer Stunde werden wir den Landeanflug auf den Mars einleiten. Wir sehen uns dann auf der Oberfläche wieder. Keine Sorge, das Raumschiff wird sie vollautomatisch und heil runterbringen. Mein Team und ich stehen für alle Notfälle bereit.“

Aufgeregt gingen die Studenten in ihre Räume und unterhielten sich darüber, welche Möglichkeiten sich ihnen in den nächsten 100 Jahren auftun würden.

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