Alt und Jung 2119 – die Welt in 100 Jahren!

von Ben Korbach

Amelie möchte nicht zu spät kommen. Die 16-Jährige spaziert zügig durch den Berliner Vorort und genießt die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Der Duft unzähliger Blumen, Bäume und Sträucher steigt ihr in die Nase.

Unterwegs schaut sie sich wie immer staunend um: Hier und da blitzt noch ein wenig alter Beton und Asphalt durch, doch das meiste leuchtet jetzt in den Farben der Natur.

Seitdem die Stadt die Straßen herausgerissen hat, hat sich auf der früheren Fahrbahn die Natur wieder angesiedelt. Seit hier nur noch Fahrradfahrer und Fußgänger unterwegs sind, hat sich das Leben komplett verändert. Überall blühen Wildblumen, die mit ihren exotischen Farben Akzente setzen.

Die Gebäude hier sind noch dieselben wie vor 100 Jahren

Sie sehen jedoch nicht mehr so grau aus wie auf den Bildern ihrer Oma. Sie fügen sich ein ins Bild der Natur. Gärten wachsen auf ihnen. Pflanzen klettern die Gebäude hinauf, andere hängen von oben hinab. Durch die offenen Fenster sieht man Menschen ihrem Tagewerk nachgehen. Aus einem klingt angenehme Klaviermusik.

Amelie atmet tief und bewusst ein und genießt die frische, duftende Luft in ihren Lungen. Sie fühlt sich großartig; lebendig und als Teil von allem, was sie sieht, hört und riecht. Lächelnd geht sie weiter und bereitet sich innerlich auf den kleinen Schock vor, der sie jedes mal trifft, wenn sie das Wohnheim ihrer Oma betritt.

Bereits hinter der nächsten Ecke steht das Gebäude. Es sieht anders aus. Ohne Pflanzen irgendwie kalt und tot. Sie wird nie verstehen, warum jemand darin leben will, aber sie weiß, es geht nicht um sie.

Angespannt betritt sie das Wohnheim

Das künstliche Raumspray verschlägt ihr wie immer fast den Atem, durch die Halogen-Lampen an der Decke wirkt die Empfangshalle irgendwie unnatürlich. Doch sie weiß, sie gewöhnt sich erstaunlich schnell daran, in 5 Minuten wird es ihr völlig normal vorkommen.

Sie lässt sich nichts anmerken, läuft lächelnd an der Rezeption vorbei und grüßt Marie dahinter. Doch die sieht sie gar nicht, wühlt gestresst in Papierstapeln herum und hält eines von diesen Telefonen an ihr Ohr. Die gute alte Zeit, wie ihre Oma zu sagen pflegt. Was gut daran sein soll, hat Amelie nicht verstanden. Kopfschüttelnd geht sie weiter.

Ein uralter Plasma-Fernseher an der Wand zeigt ein neues Programm, ein Erklärungsvideo. Vermutlich für jeden, der sich fragt, warum die Menschen hier noch so leben wie vor 100 Jahren.

„Willkommen im Millenial Senioren-Center“, beginnt eine angenehme Stimme

„Der einzige Ort Deutschlands, an dem das Lebensgefühl von vor 100 Jahren erhalten wurde. Wie Sie sicher wissen, haben sich unsere älteren Bürger schwer getan mit den Veränderungen der letzten Jahre. Hier können sie die Annehmlichkeiten ihres alten Lebens genießen. Vereinbaren Sie noch heute eine Beratung für einen Platz in unserem exklusiven Center. Beeilen Sie sich, die Plätze sind knapp und begehrt.“

Amelie läuft weiter, das Lächeln ist einem nachdenklichen Gesichtsausdruck gewichen. Sie hat ganz vergessen, dass es damals fast keine reinen Erklärungsvideos gab. Alles war Werbung; wollte einen zum Kauf bewegen. Sie stellt sich vor, wie anstrengend das gewesen sein muss. Vor der Tür ihrer Oma angekommen lässt sie den Gedanken ziehen, setzt ihr schönstes Lächeln auf und klopft. Sie verweigert sich nach wie vor diesen altmodischen Klingeln.

Die Tür öffnet sich und ihre Oma steht freudestrahlend vor ihr. Ohne Zögern umarmt sie Amelie herzlich und drückt sie fest. „Ach – schön, Du bist da. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, sagt sie und zieht Amelie hinein. „Komm, setz Dich aufs Sofa, nimm Dir Kekse. Ich hole den Tee.“ Schon ist sie in der Küche verschwunden.

Amelie nimmt Platz und schaut sich um

Zwischen Sofa und Glastisch hängt auch hier ein Fernseher an der Wand. Eine Kochsendung. Freundlicherweise ist der Ton ausgestellt. Ihre Oma rauscht wieder herein und bringt Tassen, Teekanne und Zuckerdöschen auf einem Tablett.

„Ach, Liebes, es ist so viel passiert und ich habe so viele Fragen an Dich“, sagt sie und schenkt hektisch den Tee ein. „Ich weiß, Du hast wenig Zeit und ich will Dich auch nicht lange aufhalten, aber ich freue mich so, Dich zu sehen.“

Amelie legt ihre Hand auf die ihrer Oma. „Oma, es ist alles gut, ich habe den ganzen Nachmittag Zeit und freue mich darauf, ihn mit Dir zu verbringen. Wir müssen uns nicht beeilen.“

Ihre Oma hält kurz inne, blickt tief in Amelies Augen. „Das ist schön“, sagt sie. „Aber den ganzen Nachmittag… Das geht leider nicht. Um 16 Uhr treffe ich Gisela, die war doch in England und will mir davon erzählen.“

Amelie lacht herzlich, ihre Oma steigt ein

Am Ende ist es immer ihre Oma, die Termine hat. Amelie hat oft das Gefühl, dass sie entweder in der Vergangenheit oder der Zukunft lebt. Sie selbst versucht stets, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Doch trotz dieser Unterschiede spürt Amelie ein tiefes Gefühl von Liebe für diese hektische, alte Frau. Und sie weiß, umgekehrt ist es genauso.

„Also“, setzt sie an und nippt an ihrem Tee, „worüber wolltest du mit mir sprechen?“

„Ich sah letztens eine Dokumentation über ein Dorf im Süden. Da gibt es weder Strom, noch Wasser- oder Abwassersysteme, Fernsehen, Internet. Nichts! Und das Schlimmste: Tausende junger Leute pilgern dahin, wollen ein Teil davon werden.“ Ihre Oma schaut sie verwirrt an. „Wie kann das sein? Warum wollt Ihr jungen Leute freiwillig so rückschrittlich leben?“

Amelie hatte von diesem Dorf und dem Trend gehört

„Ich glaube, immer mehr Menschen wünschen sich ein Leben in und mit der Natur. Sie wollen Zeit haben, um sich auf das zu konzentrieren, was ihnen wichtig ist.“

„Aber was ist ihnen wichtig? Und wie wollen sie es genießen, wenn sie auf den Feldern schuften müssen?“

„Vielleicht ist es ja genau das: Körperliche Arbeit in der Natur, etwas Sinnvolles erzeugen. Wirkliches Schuften ist es ja auch nicht mehr. Für die schwersten Arbeiten verwenden sie meines Wissens moderne Maschinen.“

„Aha“, sagt ihre Oma verständnislos. „Und wie verdienen sie Geld? Das brauchen sie doch, um sich Dinge leisten zu können und um fürs Alter vorzusorgen.“

„Es ist heute nicht mehr so, dass man Zeit gegen Geld tauscht, um sich damit Dinge zu kaufen, die nur kurz glücklich machen. Menschen nutzen ihre Zeit jetzt, um zu machen, was sie glücklich macht. Diese Vision war ja der Anstoß für unsere heutige Gesellschaft, nachdem wir durch die Konsumgesellschaft beinahe den ganzen Planeten ruiniert hatten.“

Amelie sagt bewusst „wir“

Dieses alte Gesellschaftssystem kennt sie nur aus Büchern. Doch sie will nicht vorwurfsvoll klingen.

„Und zur Altersvorsorge: Die Menschen bilden eine so enge Gemeinschaft, dass sich niemand Sorgen machen muss zu verarmen, wenn man nicht mehr produktiv sein kann.“

„Für mich klingt das nach Sekte. Überleg mal: Wer würde freiwillig auf den Komfort verzichten, den meine Generation für Euch aufgebaut hat? Ich glaube, dass die Leute manipuliert werden, um da mitzumachen. Wie Gehirnwäsche. Ganz gefährlich!“

„Du meinst, so wie damals mit der Werbung überall?“

„Nein, das kann man nicht vergleichen. Die Werbung war ja für etwas gut. Sie hat die Menschen dazu bewegt, etwas zu kaufen und so die Wirtschaft angekurbelt.“

„Also, Werbung gibt es ja schon lange nicht mehr. Und den Begriff ‚Wirtschaft ankurbeln‘ kenne ich gar nicht. Aber ich würde sagen, dass es mir echt gut geht. Oder was für ein Gefühl hast Du?“

„Ach, Liebes, ich weiß es nicht. Einerseits sehe ich schon, wie gut es Dir geht und wie glücklich Du bist. Andererseits verstehe ich das alles nicht. Wieso arbeitest Du zum Beispiel nicht richtig? Du vergeudest Dein Potential, Schätzchen, das sage ich Dir ja immer wieder.“

„Aber Oma, ich arbeite doch. Nur nicht montags bis freitags, morgens bis abends, wie Ihr damals. Ich suche mir die Dinge aus, die mir Spaß machen oder mich erfüllen, die mache ich dann.“

„Aber Arbeit macht halt nicht immer Spaß. Und das ist, was ihr jungen Leute nicht versteht. Ihr könnt doch nicht ein ganzes Land auf Spaß aufbauen. Jemand muss doch nun mal die Toiletten putzen.“

„Ja, da hast Du Recht, das wird auch gemacht. In den Städten machen es Roboter und in den kleinen Orten noch Menschen. Die werden dafür auch hoch angesehen.“

„Da siehst du es! Weil Ihr Euch alles so einfach macht, regieren Euch bald die Klo-Putzer.“

„Und was wäre so schlimm daran?“

Ihre Oma schüttelt verzweifelt den Kopf und schaut Amelie traurig an. „Mein Kind, bitte höre auf deine alte Oma: Das Leben ist nicht leicht und man kann sich nicht immer die Rosinen rauspicken. Und alle hier, übrigens auch Marie von der Rezeption, haben große Sorgen, dass Ihr das ganze Land herunterwirtschaftet. Bitte überlegt Euch nochmal genau, was Ihr da macht.“

„Und da sind wir beide unterschiedlicher Meinung. Ich glaube, das Leben ist einfach, wenn man auf sich selbst, seine Mitmenschen und die Natur hört. Denn am Ende sitzen wir alle im selben Boot, bzw. in der selben Küche. Und wenn wir alle an einem Strang ziehen, können wir auch selbst entscheiden, wie viele Rosinen wir in den Kuchen packen.“

 

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