Ein Roman von Mira Steffan
„Setzen Sie sich“, sagte Meier mit vordergründiger Freundlichkeit.
Mit Unbehagen kam Charlotte dieser Aufforderung nach. Wieso hatte Meier sie in sein Büro gerufen? Sie war sich sicher – das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Herr Heinze wird in vier Wochen 60 Jahre alt und arbeitet in diesem Jahr seit 30 Jahren in unserer Firma. Wir wollen ihn mit einer Feier überraschen.“
Charlotte nickte vorsichtig. Was hatte das mit ihr zu tun?
Meiers Ton wechselte unvermittelt von freundlich zu streng: „Er war Ihr Vorgesetzter. Sie kennen ihn also gut. Deswegen hatten wir die Idee, dass Sie seine Feier vorbereiten. Natürlich nicht allein. Frau Lah wird Ihnen helfen.“
Charlotte war so verblüfft von dem Kommandoton, dass ihr zunächst keine Erwiderung einfiel.
Meier redete weiter und weiter.
„Stopp“, unterbrach ihn Charlotte rüde, als ihr klar wurde, dass Meier die Organisation auf sie abwälzen wollte, fuhr dann aber mit einer süßlichen Stimme fort: „Es ist reizend, dass Sie mir das zutrauen. Die Ehre muss ich allerdings ablehnen. Sie kennen Herrn Heinze viel besser und länger als ich. Das sollten Sie übernehmen. Aber ich helfen Ihnen gerne bei der Ausarbeitung der Rede für diesen Anlass.“
Verblüfft schaute Meier sie an: „Nein, nein, meine Liebe. Sie haben das bessere Händchen für so etwas. Frauen sind darin viel geschickter als wir Männer und können besser organisieren.“
Hört, hört, dachte Charlotte, jetzt war sie sogar „seine Liebe“. Er musste sehr verzweifelt sein.
„Herr Meier. Ich kann nicht. Selbst wenn ich das wollte. Ich habe so viel Arbeit. Das funktioniert nicht. Beim besten Willen. Mit fällt aber gerade etwas ein: Frau Grüntal kennt Herrn Heinze aufgrund ihrer jahrelangen engen Zusammenarbeit wohl am besten von uns allen. Fragen Sie sie. Ich würde Frau Grüntal für die Planung und Vorbereitung auch einige Stunden freistellen.“
„Mhm. Ist das Ihr letztes Wort.“
„Ja,“ sagte Charlotte knapp und nachdrücklich.
Mit einer heftigen Geste, die seinen unterdrückten Ärger erkennen ließ, fuhr sich Meier durch sein Haar: „Also gut. Dann soll Frau Lah die Organisation zusammen mit Frau Grüntal übernehmen.“
Warum nicht gleich so, dachte Charlotte grimmig.
Sie saßen in Dorotheas Büro, hatten gerade einen Vertrag durchgesprochen und saßen nun entspannt bei Kaffee und Keksen zusammen. Unvermittelt unterbrach sich Dorothea mitten in ihrem Redefluss: „Hörst du mir zu?“
„Entschuldige bitte, ich bin etwas durcheinander.“
„Du bist die ganze Zeit schon hibbelig und fahrig. Was ist los? Erzähl.“
„Nein, nein, ich wollte dich nicht unterbrechen.“
„Ach komm schon. Du siehst aus wie 1000 Tage Regenwetter. Nun rede schon.“
Charlotte lachte unfroh und löffelte Zucker in ihre Tasse: „Übertreib nicht. 1000 Tage…tsss.“
„Stimmt aber. Und jetzt rede. Oder muss ich erst handgreiflich werden.“ Spielerisch tippte Dorothea auf Charlottes Kopf.
Ein Kichern entschlüpfte Charlotte. „Los jetzt.“
Charlotte gab nach: „Okay. Mir geht so vieles durch den Kopf. Um es kurz zu machen: Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann nicht malen. Mein Job lässt mir oft nicht genug Zeit für meine Familie. Meine Idee, zwei Tage von zuhause zu arbeiten, wurde rundweg abgelehnt. Stattdessen wurde mir ein neuer Job angeboten.“
„Das ist eine Menge“, Dorothea nickte vielsagend.
Charlotte holte tief Luft und erzählte von ihrem Zeichenkurs und dem Angebot der Galeristin: „Und…was meinst du dazu?“
„Ich fasse mal zusammen: Du wolltest schon immer was mit Kunst machen, hast es dir aber nicht zugetraut und deswegen BWL studiert. Im Zeichenkurs hast du festgestellt, dass dir das Talent zum Malen fehlt. Eine Galeristin hat dir einen Job angeboten, der schlecht bezahlt ist, aber mehr Freizeit und eine Welt schöner Dinge bietet. Interessiert dich das Angebot überhaupt?“
Charlotte hob beide Hände in die Höhe: „Keine Ahnung. Ich liebe die Kunst, bin aber keine Fachfrau.“
„Lass es mich mal ganz praktisch angehen: Gesetzt der Fall, Justus‘ Gehalt fällt aus irgendeinem Grund weg. Kannst du dich und Emma dann mit dem Galerie-Gehalt ernähren?“
Verblüfft schaute Charlotte Dorothea an, die mit den Schultern zuckte: „Ich bin eine geschiedene Frau. Ich habe gelernt, dass Geld und finanzielle Sicherheit sehr wichtig sind. Daran solltest du auch denken. Denn du hast, im Gegensatz zu mir, zudem noch die Verantwortung für dein Kind.“
Charlotte zögerte: „Ich denke schon, dass ich mit dem Geld zurecht käme. Andere Frauen schaffen das ja auch.“
„Klar, sie müssen sich aber auch ganz schön abrackern. Schau dich um. Mach die Augen auf. Ich habe einige Freundinnen mit Kindern, die sich seit ihrer Scheidung ordentlich strecken müssen. Es ist eine Tatsache, dass bei einer Familiengründung immer die Frau das wirtschaftliche Risiko trägt. Und glaube mir: Wenig Geld zu haben zermürbt. Es muss ja auch nicht immer eine Scheidung sein, die einen ruiniert“, fuhr Dorothea fort. “Es gibt andere Schicksalsschläge, von denen ich hoffe, dass sie uns nie ereilen. Was ich sagen will ist: Überlege es dir gut. Vielleicht machst du eine Liste und schreibst die Vor- und Nachteile der jeweiligen Arbeit auf. Mir hilft das immer, wenn ich eine Entscheidung treffen muss. Und was das Malen betrifft – mach es zu deinem Hobby.“
Wieder zurück in ihrem Büro, dachte Charlotte über Dorotheas Worte nach. Malen als Hobby? Charlotte schüttelte ihren Kopf, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie hob den Hörer ab, und die Vor- und Nachteile-Liste war vergessen.
„Ach Mensch, schon wieder ein verplantes Wochenende“, sagte Charlotte. Es war Samstag und sie saß gemütlich eingewickelt in ihrem Bademantel mit Justus am Frühstückstisch. In der Hand hielt sie eine Einladung zu einem runden Geburtstag.
„Ich weiß, ich kann Joachim aber nicht absagen. Er ist mein ältester Freund.“
Charlotte seufzte: „Ich mag ihn und seine Frau auch. Es ist ja nur, weil unsere gemeinsame Zeit darunter leidet. Und gleich müssen wir auch schon wieder los zu deinen Eltern. Susanne habe ich die letzten beiden Samstage versetzt. Es ist mir alles zu viel. Dieser ganze Trubel macht mir schlechte Laune. Am liebsten würde ich mit dir und Emma im Wald spazieren gehen und anschließend etwas Schönes kochen.“
„Das machen wir morgen“, sagte Justus und als er ihren skeptischen Blick sah, füge er hinzu: „Versprochen.“
„Deine Eltern wollen doch, dass wir bei ihnen übernachten.“
„Nein, das habe ich vorhin beim Telefonat geklärt. Wir fahren heute Abend wieder nach Hause.“
Justus‘ Eltern wohnten in Frankfurt-Sindelfingen. Charlotte mochte beide und kam gut mit ihnen aus. Sie waren lebenslustig und seit ihrer Pensionierung, ihre Schwiegermutter hatte als Richterin gearbeitet, ihr Schwiegervater als Justiziar in einem Unternehmen, in der Welt unterwegs. Vor drei Tagen waren sie aus Nairobi zurückgekommen. Und sie wollten unbedingt ihr einziges Kind und seine Familie wiedersehen.
Als sie vor dem villenähnlichen Haus vorfuhren, dessen Eingang von zwei Pflanzenkübeln mit Ziernadelbäumen flankiert wurde, öffnete sich fast zeitgleich die Haustür und ihre Schwiegermutter stürzte heraus. Etwas langsamer kam ihr Schwiegervater hinterher.
„Hallo Erika, hallo Robert. Mein Gott seid ihr braun geworden. Das steht euch hervorragend“, stellte Charlotte beim Aussteigen begeistert fest. Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, drückte Erika sie herzhaft und gab ihr zwei schallende Küsse auf jede Wange. Genauso verfuhr sie mit Justus und Emma. Roberts Begrüßung war etwas gesetzter, aber nicht weniger herzlich.
„Kommt rein. Kaffee und Kuchen warten auf euch. Wir haben euch ganz tolle Sachen mitgebracht. Ich bin schon sehr gespannt, wie euch eure Geschenke gefallen“, sagte Erika aufgeregt.
Gemeinsam betraten sie den Eingangsbereich des Hauses. Es duftete nach frisch aufgebrühten Kaffee.
„Geht schon mal ins Esszimmer. Ich hole den Kaffee.“
Der Tisch war ganz im Massai-Design eingedeckt und auf drei Stühlen lagen Geschenke.
Bewundernd blieb Charlotte im Türrahmen stehen: „Das sieht beeindruckend aus.“
„Gefällt es dir? Das haben wir alles aus unserem Urlaub mitgebracht“, sagte Erika stolz, die mit der Kaffeekanne in der Hand das Zimmer betrat, „macht die Geschenke auf“, sagte sie und deutete mit dem Kinn in Richtung der drei Stühle, während sie den Kaffee eingoss.
In Charlottes und Emmas Päckchen befanden sich jeweils ein aus Perlen gearbeitetes Armband sowie ein passendes Halsband, und Justus bekam einen schlicht gearbeiteten Ledergürtel.
„Ich habe noch was“, frohlockte Erika und verschwand im Wohnzimmer. Als sie wieder zurückkam, hatte sie zwei aus Sisal geflochtene und mit Lederriemen versehene Einkaufskörbe in den Händen, die sie Emma und Charlotte überreichte.
„Wie lieb von euch“, sagte Charlotte, während sie Emma, die vor Freude und Aufregung von einem Bein auf das andere hüpfte, half, den Schmuck anzulegen, „wie hat euch die Safari gefallen?“
Während Justus‘ Eltern mit Elan und Begeisterung von ihrer aufregenden Reise berichteten, ließ Justus seine Augen über die Menschen schweifen, sah Emmas glückliches Gesicht und Charlottes aufmerksames. Wie wohl er sich fühlte, und wie er sie liebte. Das war seine Familie, seine Zuflucht, seine Burg, seine Heimat, sein Leben. Er atmete tief und zufrieden ein und stach mit seiner Kuchengabel ein sehr großes Stück von seinem Kuchen ab.
Justus hielt sein Versprechen – am nächsten Tag machten sie alle drei einen Spaziergang, und anschließend kochte er das Abendessen. Als der Alltag am nächsten Tag weiterging, fühlte sich Charlotte entspannt und glücklich. Sie betrat das Vorzimmer, als Bärbel Grüntal telefonierte. Ihre Mine und Haltung dünsteten Frust und Unzufriedenheit aus. Sie musste ein wirklich mieses Wochenende erlebt haben, dachte Charlotte, winkte ihr zu, betrat ihr Büro, fuhr den Rechner hoch und begann mit ihrer Arbeit.
„Frau Reimann!“
Charlotte blickte von ihrem Schreibtisch auf. Im Türrahmen stand Bärbel Grüntal. Ihre hängenden Mundwinkel verhießen nichts Gutes: „Ja, was gibt’s?“
„Von den Rasterleuchten an der Decke in meinem Büro bekomme ich Migräne.“ „Mhm. Das tut mir leid. Dann machen Sie doch das Licht aus.“
Die Grüntal schüttelte vehement und entrüstet ihren Kopf: „Dann ist es zu dunkel zum Lesen. Außerdem schlägt mir Dunkelheit aufs Gemüt.“
„Mhm. Habe ich das richtig verstanden: Wenn es hell ist, bekommen Sie Migräne. Ist es dunkel, werden Sie schwermütig.“
Die Grüntal nickte.
Charlotte verscheuchte ihre Ungeduld: „Das ist schwierig. Wie kann ich Ihnen denn denn helfen?“
„Ich würde gerne andere, weniger grelle Lampen bestellen.“ „Wenn es das gibt, dann tun Sie das. Ich habe nichts dagegen.“
In der Annahme, dass nun alles geklärt wäre, blickte Charlotte auf ihren Schreibtisch. Doch Bärbel Grüntal blieb in der Tür stehen. „Haben Sie noch ein Problem?“
„Ja, Sie haben mir am Freitag nicht gesagt, dass Sie morgen nicht im Hause sind. Und jetzt habe ich schon Termine gemacht.“
„Ach, Mist. Das habe ich ganz vergessen“, Charlotte schlug sich mit der flachen rechten Hand vor die Stirn, „morgen muss ich zu einer Fortbildung nach Köln. Können Sie die Termine verlegen?“
Die Grüntal seufzte ergeben und warf ihr einen strengen Blick zu „Keine Ahnung. Ich werde es versuchen“, sagte sie giftig.