Museumsgründerin, Feministin, Künstlerin: Wer ist Marianne Pitzen?

Portrait von Dennis Divinagracia/ Text von Corinna Heumann

Marianne Pitzen, 1948 in Stuttgart geboren, stellt bereits 1969 erstmals ihre Werke öffentlich aus. Kurz darauf gründet sie mit ihrem Mann, Horst Pitzen, die Galerie ‚Circulus’ in Bonn. Gleichzeitig publiziert das Künstlerpaar die Zeitschrift ‚Circular‘. Aus den Konzepten der feministischen Künstler*innen Gruppe ‚Frauen formen ihre Stadt‘, die sie weitgehend prägt, entwickelt sich der Plan ein Museum für Frauen zu etablieren – ein interdisziplinäres Museum mit dem Ziel, die Geschichte der Frauen, ihre Wirkungskreise und ihr kreatives Potential zu erforschen.

Utopien werden in konkrete Politik umgesetzt

Die Visionärin verbindet künstlerische Gestaltungskraft mit politischem Engagement. Was treibt sie an? „Die Bedeutung der Kunst aus Frauenhand für individuelle und gesellschaftliche Prozesse ist durch nichts zu überbieten.“ konstatiert sie. Sie kämpft für eine gerechtere Gesellschaft. Die konsequente Durchsetzung der Frauenrechte und ihre feste Verankerung in allen gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen sind dafür unumgänglich. 

Also raus aus dem Elfenbeinturm eines ästhetischen Kopfkinos und hinein in die Aktion – mit wachem Forschergeist erspürt Marianne Pitzen die inhaltlichen und medialen Untiefen der strukturellen Benachteiligung von Frauen. Nur mit der Mobilisierung des Potentials der gesamten Bevölkerung kann die Komplexität der Welt erfasst werden. Nur so können drängende Fragen bewältigt werden. Um auf ihre Thesen aufmerksam zu machen und ihnen Bedeutung zu verleihen, gründet sie das erste Museum der Frauen weltweit.

Vision einer frauenfreundlichen Gesellschaft

Die Vision einer frauenfreundlichen Gesellschaft ist Antrieb und Zielvorstellung ihrer Utopie. Marianne Pitzen gestaltet Frauengruppen als Symbole weiblicher Souveränität, kosmischer Weisheit und Harmonie. Diese Tugenden werden seit vielen Jahrhunderten in der Kunst- und Kulturgeschichte überliefert. Zu allen Epochen sind sie Inspirationsquellen der Kunstschaffenden. Bis in die Gegenwart werden sie immer wieder neu gedacht und um neue ästhetische Perspektiven erweitert. Historische Matriarchate und Matronen-Kulte sind als wissenschaftliche Forschungsgegenstände inzwischen fest etabliert. Entdeckt und bekannt gemacht wurden diese grundlegenden weiblichen Beiträge zu unserer westlichen Kulturgeschichte allerdings erst in den letzten 50 Jahren durch die Frauenbewegung.

Die ‚Stadt der Frauen’ im Jahre 1405

Bereits im späten Mittelalter stellt die Lyrikerin, Moralistin und Pädagogin, Christine de Pizan (*1364 in Venedig) die von Gott gegebene Ordnung in Frage, die den Frauen und Mädchen minderwertige und dienende Rollen zuweist: „Wenn es üblich ist, kleine Mädchen in die Schule zu stecken, und wenn es üblich ist, ihnen Wissenschaft zu vermitteln, wie wir es mit kleinen Buben tun, dann sollen sie auch perfekt lernen und die Feinheiten aller Künste und Wissenschaften hören, wie sie (die Buben) es tun. » (« Si la coustume estoit de mettre les petites filles a l’escole, et que communément on les fist apprendre les sciences comme on fait aux filz, qu’elles apprendroient aussi parfaitement et entenderoient les subtilités de toutes les arz et sciences comme ils font. »)

Eine Frau löst den ersten dokumentierten Literaturstreit in Paris aus

Mit ihrem Roman, ‚Die Stadt der Frauen‘ ( ‚Le Livre de la Cité des dames‘) als Antwort auf das misogyne Frauenbild ihrer Zeit löst Christine de Pizan den ersten historisch belegten Literaturstreit aus. Danach finden ihre Schriften bis in das 20. Jahrhundert außerhalb Frankreichs wenig Beachtung. Erst Simone de Beauvoir sichert ihr in ihrem Essay, ‚Le Deuxième Sexe‘ (‚Das zweite Geschlecht‘) aus dem Jahr 1949, neue Berühmtheit in den USA und in Deutschland. Darin stellt Simone de Beauvoir zu Christine de Pizans bemerkenswerter Karriere durch ihre Polemik mit Guillaume de Lorris und Jean de Meung (‚Le Roman de la Rose‘) fest: „Zum ersten Mal sehen wir eine Frau, die die Feder ergreift, um ihr Geschlecht zu verteidigen.“ 

Marianne Pitzen gründet das erste Frauenmuseum 1981

Um ihr Geschlecht zu verteidigen, um Frauen gleichwertige gesellschaftspolitische Teilhabe zu sichern, gründet Marianne Pitzen 1981 das erste Frauenmuseum weltweit. Gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ‚museion‘, dem Sitz der Musen, der Hüterinnen der kosmischen Ordnung, der Göttinnen der Künste und Wissenschaften, ist es ein Museum der Gegenwart. Aktuelle Kunst, Lebens- und Politikerfahrungen werden verhandelt, intellektuell und emotional für die Gesellschaft erfahrbar gemacht – eben nicht einbalsamiert. Jahrhunderte lang verdunkelte Frauengeschichte wird zum Leben erweckt, erforscht und zeitgenössisch präsentiert.

Internationale Ausstrahlung

Schnell führt diese innovative Konzeption zu Gründungen von Frauenmuseen auf der ganzen Welt. Heute ist die IAWM (International Association of Women‘s Museums) mit über 60 Museen ein einzigartiges Netzwerk zum Erforschen der vielfältigen Geschichte der Frauen. Jede einzelne Neugründung entwickelt individuell abgestimmte Themenschwerpunkte, um in der Forschung zur Frauengeschichte die historischen- und kulturspezifischen Aspekte der unterschiedlichen lokal geprägten gesellschaftlichen Prozesse einzubeziehen.

Rheinland

Die Gründung des ersten Frauenmuseums war sicher kein Zufall, sondern das Resultat eines sich immer weiter ausdifferenzierenden Kunst- und Politikbetriebs in der nicht mehr ganz jungen Bundesrepublik. Mit der  Internationalisierung von Kultur und Wirtschaft, die zu Beginn der 80er Jahre bereits im vollen Gange war, verankerten sich feministische Impulse aus Paris und New York auch in der rheinischen Provinz. An der Düsseldorfer Akademie, im Kölner Kunstmarkt und in der Bonner Republik wurden die gesellschaftspolitische Rolle der Frau und die Frage nach einer ‚weiblichen Ästhetik‘ neu verhandelt. 

Zeitzeugin und Weggefährtin

Mit ihrem überbordenden Idealismus, einem ausgeprägten Sinn für Diplomatie und Humor dokumentiert die Gründerin in ihrem Werk und im Konzept des Frauenmuseums durchgehend seit vier Jahrzehnten ihre Idee von einer gerechten Gesellschaft, ihre Fort- und Rückschritte. Mitstreiterinnen aus den wilden Jahren der Frauenbewegung prägen heute in Führungspositionen unsere Republik. Marianne Pitzen setzt den kunsttheoretischen Ansatz von Joseph Beuys in die Tat um: Das Konzept der Sozialen Skulptur, das den Anspruch verfolgt, mit dem künstlerischen Blick den gesellschaftlichen Fortschritt mitzubestimmen. 

Erweiterter Kunstbegriff

Auf der Grundlage eines erweiterten Kunstbegriffs sind Aktionen und Diskussionen mit einflussreichen Politikerinnen und Ausstellungen über ihre Karrieren Teil der Museumsarbeit. Mit jeder Generation beginnt die gesellschaftspolitische Identitätsbildung auf das Neue. Als Hüterin des frauenpolitischen Fortschritts setzt sich Marianne Pitzen heute für die digitalen Rechte der Frauen ein. 2022 wird in der Ausstellung „Digitopia“ der weibliche Figurenkosmos einer Stadt der Frauen im digitalen Zeitalter dargestellt.

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