Symbolpolitik oder Dystopia de luxe: Apfelbäumchen, Klimatologie, Psychologie

Illustration von Corinna Heumann/ Text von Frank Fremerey

Brauchen wir Psychologen, um uns der Klimakrise zu stellen? Reicht der Verzicht auf Urlaubsflüge, T-Bone-Steaks und Plastiktüten, um die globale Erwärmung aufzuhalten? 

Wenn Probleme das Fassungsvermögen übersteigen, neigen Menschen dazu, in symbolische Handlungen zu flüchten. Schon so selbstverständliche Dinge wie der eigene Tod treiben Menschen in die Tempel der Religionen. Die Angst vor einem Weltenbrand wie dem Klimawandel lässt an jedes grüne Märchen glauben. Dabei hat in Deutschland der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Artikel 20a des Grundgesetzes inzwischen Verfassungsrang. 

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Oft wird verkündet, dass wir auf bestimmte Dinge verzichten sollen. Kann uns ein sparsames Leben tatsächlich retten oder dient es lediglich zur Beruhigung unseres schlechten Gewissens? Wir könnten die Güter, die wir heute verschwenderisch herstellen, auch nachhaltig produzieren. Brauchen wir etwa Psychologen, die uns wissenschaftliche Erkenntnisse emotional so aufbereiten, dass wir den Klimawandel wirklich verstehen? Denn erst dann beginnen wir ernsthaft zu handeln. Der inflationäre Gebrauch der Begriffe grün, bio und nachhaltig im Marketing hinterlässt jedenfalls keine nennenswerte Wirkung zum Erhalt unserer Lebensgrundlagen auf diesem Planeten.

Ein Faktencheck 

Wir sind heute fast 8 Milliarden Menschen auf dieser Erde. Im Durchschnitt haben wir einen Gesamtenergieverbrauch von etwa 20 Kilowattstunden pro Kopf und Tag. Das ist insgesamt zu viel. Europäer verbrauchen sogar das Zehnfache, also etwa 200 Kilowattstunden pro Tag. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich Kilowattstunden in Heizen, Kühlen und Verkehr umrechnen lassen, hier ein Beispiel: 100 km Auto fahren verbraucht etwa 80 Kilowattstunden (David MacKay). 14 Millionen Autos gab es vor 50 Jahren. Heute fährt und steht die dreifache Anzahl auf den deutschen Straßen. Parallel dazu entwickelte sich die Verkehrsinfrastruktur dysfunktional. Wir schaffen es nicht einmal mehr, die Kosten für ihren Erhalt aufzubringen.

Wo können wir sparen und was bringt es?

Brechen wir aus dieser 200-Kilowattstunden-pro-Tag-Rechnung die größten Brocken heraus. Verzichten wir auf Flugreisen, Auto fahren und Fleisch essen, so bleiben immer noch 80 Kilowattstunden pro Tag. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass plötzlich alle Europäer auf Flugreisen, Autofahren und Fleischessen verzichten. Aber selbst diese radikalen Maßnahmen würden uns nichts nützen.

Klimawandel und Kategorischer Imperativ

Nach Immanuel Kants Kategorischem Imperativ soll das eigene Handeln so gestaltet sein, dass es Maßstab für das allgemeine Handeln sein könnte. Am Beispiel Klimawandel und Nachhaltigkeit bedeutet dieser Gedanke, dass die Ressourcen der Erde durch das eigene Handeln nicht übermäßig beansprucht werden. Wenn also jeder nachhaltig handelte, würden wir die Welt nachhaltig bewirtschaften.

Theorie und Praxis

Bereits 20 Kilowattstunden pro Tag sind bei 8 Milliarden Menschen für diesen Planeten zu viel. Wenn ich also auf Flugreisen, Auto fahren und Fleisch essen verzichte; wenn ich in einem gut isolierten Haus in der Stadt wohne, von dem aus alles fußläufig erreichbar ist, liege ich immer noch bei dem Vierfachen des Weltdurchschnitts. Mit 80 Kilowattstunden Verbrauch pro Kopf und Tag könnten wir also die Ökosysteme von vier Planeten zerstören.

Ein Denkfehler besteht darin, dass wir die heutige Art der Energie- und Ressourcennutzung mit 90% Kohle, Öl und Gas zum Maßstab nehmen. Wir glauben, dass es dabei bleiben wird. Weder wird in den Klimaberechnungen ein Anstieg des Energiebedarfs, noch wird der Wunsch der ärmeren Teile der Weltbevölkerung nach mehr Wohlstand berücksichtigt. Insgesamt werden wissenschaftliche Aussagen nicht ausreichend ernst genommen und politisch wirkungsvoll umgesetzt. 

Steigender Energiebedarf

Tatsächlich wird es keine Zukunft mit weniger Energieverbrauch geben. Der Energiebedarf wird aus den verschiedensten Gründen steigen. Trotzdem leisten Energiesparen und die damit verbundene Bewusstseinsbildung wichtige Beträge zu einem Politikwechsel. Nicht nur die Menschen, die heute weniger als 20 Kilowattstunden pro Tag verbrauchen, wollen der Armut entkommen, auch wächst die Weltbevölkerung immer weiter. Wir werden nicht 8 Milliarden bleiben, sondern demnächst 10 Milliarden sein. Smartphones, Künstliche Intelligenz, Kryptowährungen und E-Mobilität treiben den Stromverbrauch in immer neue Höhen.

Die Rettung besteht darin, Kohle, Öl und Gas zu ersetzen

Physikalisch gesehen gibt es für die Bewältigung des wachsenden Stromverbrauchs genau zwei Möglichkeiten: Sonnenkraft aus den heißen Wüsten oder Kernkraft. Der aktuelle Ausbau von Sonnen- und Kernkraft reicht nicht einmal, um den steigenden Zusatzbedarf zu decken. Daher bauen wir weiterhin weltweit neue Kohlekraftwerke. Diese beschleunigen den Klimawandel. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Kohleverbrennung verdoppelt. Lobbyismus und emotionale Befindlichkeiten weiter Teile der Bevölkerung verhindern die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis. Schlussfolgerung: Der Ausbau klimagasarmer Stromquellen muss sehr viel schneller gehen. Der Klima-Fußabdruck eines Franzosen ist halb so groß wie derjenige eines Deutschen.  

Psychologie und Klimatologie: Haben wir Zeit, weiterhin auf menschliche Einsicht zu warten?

Ich bin fest davon überzeugt, dass nur Einsicht und Freiwilligkeit zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung führen werden. Die Fakten des Klimawandels sind bereits seit Ende der 1970er Jahre bekannt. Ich habe Anfang der 1980er Jahre zum ersten Mal davon erfahren. 

Allerdings können  viele Umweltbewegte den Blick in den Abgrund bis heute nicht ertragen. Sie beschäftigten sich intensiv mit Symbolpolitik. Um zunächst ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit in der Bevölkerung zu bilden, waren diese Aktionen wichtig. Aber heute hilft uns nur noch das beherzte Umsetzen wissenschaftlicher Erkenntnis in praktische Politik. Wenn die Wissenschaft sagt, dass der CO2-Preis bei 180 Euro pro Tonne liegen muss, dann haben 60 Euro maximal ein Drittel der Wirkung.

Was können wir heute tun?

Wenn wir nach der wissenschaftlichen Erkenntnis gehandelt hätten und ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre sämtliche Kohlekraftwerke durch Atomkraftwerke ersetzt hätten, gäbe es heute keinen Klimawandel. Das stimmt zwar, nützt aber nichts. Die wirklich relevante Frage zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist: Was können wir heute tun? 

Sollen wir Apfelbäumchen pflanzen? Das schadet jedenfalls nicht. Wir werden uns nachher besser fühlen. Das Wichtigste jedoch ist, dass wir uns nicht entmutigen lassen. Wenn wir deprimiert in der Ecke hängen, ist niemandem geholfen. Also lasst uns auf die Wissenschaft hören und kreativ umsetzen, was notwendig ist. Lasst uns andere weltweit für diese Aktionen begeistern und Landesgrenzen überwinden, indem wir die Gemeinsamkeiten betonen, nicht die Unterschiede. Wir können es uns in der heutigen Lage nicht leisten, Russland und China auszugrenzen. Wenn die Verständigung auf Landesebene nicht funktioniert, weil die Werte zu unterschiedlich sind und das Misstrauen zu groß, dann lasst uns kooperative Beziehungen zwischen Städten aufbauen, zwischen Institutionen und Menschen. Wer etwas will, findet Wege, wer etwas nicht will, sucht Ausreden. Wir Menschen sind uns ähnlicher, als wir oft annehmen. Im Klimawandel sitzen wir alle in einem Boot. Er könnte die historische Chance sein, die gesamte Weltbevölkerung zu vereinen, um eine friedliche Zukunft der Menschen auf der Erde zu sichern. Das wäre eine konkrete Utopie!

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