Steigflug im Powermodus – Bitte einmal 100 Jahre zurück und wieder retour

Illustration Susanne Gold/ Text Peter Worschech

Holzkirchen im Februar 2121. Im Keller stöberte ich zwischen vergammelten Stoffresten und fand eine vergilbte Aufzeichnung meines Ur-Opas Peter. Dieser seltene Fund faszinierte mich, denn Handschriftliches kenne ich meist nur aus Dokus. Das Lesen bereitet mir Mühe, da ich einige Wörter nicht kenne: Kulturvision steht einsam auf der Überschrift – seltsam, wie die Menschen damals schrieben. ‚Cultural Vision‘ muss es doch heißen. Offensichtlich schrieb Peter 2021 einen kleinen Aufsatz über die „Die Welt in 100 Jahren“. Die ersten Sätze richtete Ur-Opa an Monika und Anja. Dann Wort- und Satzfragmente, Skizzen über seine erdachte Zukunft. Seine Vorstellung darüber begeistert, auch wenn mir einige Zusammenhänge noch diffus sind. Bei Ur-Opas Vision taucht nach der dritten Zeile der exotische Satz „Ich bin Lost“ auf.  Was bedeutet das? Das fragte ich Siri, die schwebende 3D-Hologramm-Fee aus der Projektionsbox. Mit ihrem betörenden Lächeln übersetzte sie mir das Wort „Lost“ als „verloren“, „überfordert“, „ideenlos“. Mensch Ur-Opa, hattest Du damals keinen Peil?

Siri mit ihrer bayerisch modulierten Stimme leitete mich auf ebenso Anregendes um: Mein Freund Hartmut lud mich spontan zu einem Trip in das Museumsdorf bei Schliersee ein. In 20 Minuten ist er hier und das wird knapp. Siri empfahl mir für die Exkursion ein Eyeliner-Applikator mit einem Universal Lipliner transparent aufzutragen. Einverstanden, Siri. Der übergestülpte Make Up-Roboter (MUR) massierte zunächst wohltuend meine Gesichtshaut, um nahtlos auf das Set der filigranen Schminkwerkzeuge überzugehen. Ohne Kleckern zauberte MUR mir ein makelloses Make Up.

Upps, Siri ermahnte mich erneut, die neue Software des optimierten Datenschutzes auf mein Chipimplantat zu spielen. Gleichzeitig werden Bankdaten und Code des Schließmechanismus der Eingangstüre aktualisiert. Siri, hast Du gestern auch die neue Gesundheits-Software der Early Cancer Detection auf das Chipimplantat geparkt? Ja Edith, habe ich und jetzt noch etwas Musik für deine Motivation? Ur-Opas Notiertes nehme ich auf den Ausflug mit. In einer weiteren Zeile spekulierte Ur-Opa über den Wegfall von Lichtschaltern in Wohnräumen. Ja, da hatte er den richtigen Riecher. Sobald ich in einen meiner Räume spaziere öffnet sich je nach Sonneneinstrahlung ein Lichtszenario, das mein Wohlfühlen unterstützt. Zuviel Schatten, zu wenig Kontrast, Siri hilft beharrlich beim Nachjustieren, auch bei ihrer Selbstoptimierung. So empfiehlt sie heute ein Update, um Tonalität und Sprechtempo bei ihr zu ändern. Auch das ältere Sommerprogramm mit dem viel zu kurzen Rock will sie löschen, das würde Hartmut bloß ablenken. Siri erhält von mir das Codewort und ruck-zuck ist ihr durchscheinendes filigranes Hologramm mit ihrem neuen farblich abgestuften Bleistiftrock lebendiger denn je. Sprießender Charme, neues Styling und überzeugende Ansprache – braucht man da noch Mensch?

Siri meldet mir, dass Hartmut soeben gelandet sei. Was ich draußen am Parkdeck sehe, beindruckt mich. Hartmut flog mit der neuesten Generation des zweisitzigen City Airbus Clean Sky von Airbus ein. Dominiert derzeit den Markt, da Designsprache, Vertikalbeschleunigung und Reichweite derzeit die Ober-Liga der hybridelektrischen Air-Taxis darstellt. Das ist Tech-Porn vom Feinsten. Hartmut streicht mit einer Geste über den riesigen Bildschirm und schon heben wir unter einem dumpfen Grollen ab. Nach einigen Höhenmetern wird das Turbinengeräusch feuriger und mit einem gewaltigen Punch und fettem Grinsen katapultieren wir uns Richtung Süden. Ein irrer Lustgewinn. Der Flugmodus „Rock“ wird beibehalten und ‚Level 5 autonomes Fliegen‘ benötigt keinen weiteren manuellen Eingriff. Wir fühlen uns als beschützte Passagiere. Angekommen, erzählte ich Hartmut von Ur-Opas Lichtschalter damals vor 100 Jahren. Ich hatte nur eine diffuse Vorstellung, wie so ein Teil aussah und konnte mir nicht erklären, dass Leute, um eine Lichtstimmung zu schaffen, dafür aufstehen, durch den Raum gehen und mit Handkraft eine Vorrichtung bewegen mussten. Im Strommuseum des Lukas Hof erklärt uns, stilecht in historischer Tracht gekleidet, unser sympathischer Ausstellungsbegleiter Rolf die damaligen Lichtschalter. Offensichtlich gab es bei den unansehnlichen Vorrichtungen mehrere Positionen, Ein/Aus-Wechsel- oder Tastschalter. Kompliziert, wie hielten das damals die Leute aus? Was ist, wenn ich vergesse, diese Vorrichtung auszuschalten? Mit einem Lächeln erklärte uns Rolf, das vor 100 Jahren Merkfähigkeit, Konzentration und Achtsamkeit bei den Vorfahren deutlich ausgeprägter waren als in der Gegenwart. Dennoch sind durch Lichtschalter kaum Unfälle bekannt. Das möchte ich mit Siri vertiefen, nur zu dumm, ich habe sie zuhause alleine gelassen und Hartmut lies sein gesamtes Devise Equipment im City Airbus zurück. Vielleicht besser so. Denn beim ersten Kennenlernen philosophierte er angeregt per altertümlicher Datenbrille mit auswärtigem Gesprächspartner. Heute spüre ich seine Aufmerksamkeit.

Spät nachmittags am Parkdeck des Lukas Hof steigen wir wieder in unseren City Airbus. Hartmut kennt sich mit superintelligenten KI-Systemen und der Verbindung mit Full-Immersion-Technologien aus. Er koppelt sich mittels seines neuronalen Steuer-Headsets mit dem Infrastruktursystem des City Airbus und versucht, über seine Gedanken den Flug zurück nach Holzkirchen zu steuern. Schon heben wir sachte ab, doch die Überraschung folgt: Steigflug im Powermodus mit anschließendem Looping – das führt bei uns zu einem johlenden Lachen. Trägheitsmomente werden pulverisiert, Vernunft ist vergessen, denn Leidenschaft treibt uns augenblicklich an. Uns? Wie gelingt Hartmut diese perfekte Geschmeidigkeit zwischen Hingabe und Konzentration?

Gleich zuhause verbinde ich mich mit Siri und übe unter ihrer Anleitung, was Ur-Opa Peter vielleicht besser konnte. Sich etwas merken, auf die richtigen Dinge konzentrieren. Den Dialog mit Siri aus der Sichtweise „Weniger ist Mehr“ praktizieren. Reizüberflutung war gestern. Morgen werde ich Natur genießen und will wieder mehr unter Menschen zu sein. Am liebsten bei einer Veranstaltung der Cultural Vision in einer Gastwirtschaft bei einer Halben Bier. Um kreativ und ungezwungen vielleicht in die Welt von 2221 zu spähen. Das hebt die Stimmung und Energie.

Der lebende Peter von 2021 grüßt.

 

Eine Initiative von anders wachsen im Oberland in Kooperation mit der Utopiensammlerin.com.

Kommentar verfassen