Im gläsernen Zug der Zeit – die Welt in hundert Jahren

Illustration von Sharon Calman /Text von Claudia Conen

Es ist ein Tag im Januar 2019 – Ich liebe das Leben im Jetzt und Hier

Da ist ein transparenter Zug, in den ich steige. Ich kann alles sehen drumherum. Ich fahre oberhalb, entlang eines Berges, weit oben. Unten sehe ich Straßen – aber, während ich langsam darüber schwebe, fällt mir auf, dass dort keine Menschen sind. Doch ich sehe Wurzeln von Bäumen, die ganze Straßen anheben und Pflastersteine nach oben drücken.

Die Natur erobert sich ihr Gebiet zurück

Dort sind viele Bäume mit kräftigen Stämmen, schön und stark. Diese Bäume wollen leben und sie wollen ihren Platz, um in all ihren schönen Farben zu erstrahlen. Und dann sehe ich auch Menschen – sie fliegen in transparenten Kapseln durch die Landschaft, welche die Formen von Eiern haben. Meistens sitzt je gläserner Kapsel nur ein Mensch. Das sieht dort oben in der Luft irgendwie seltsam und hektisch aus. Haben sich die Menschen nach oben verzogen?

Der Zug fährt weiter in der Zeit

Ich sehe entfernt wundervolle Landschaften vorbeifliegen, grün und durchzogen von großen blau schimmernden Flüssen. Doch, was ist davor? Es ist alles so kahl. Verrückt, da sind keine Autos. Ich bin wohl 25 Jahre weitergefahren. Denn, blicke ich zurück auf die gefahrene Strecke, sehe ich jede Menge Autos, verstopfte Straßen und sehr viel Stau. Es ist stickig und staubig in den Städten der Vergangenheit. Stau, Stau und nochmal Stau – niemand kommt vorwärts. Doch, ich schon, denn der langsame gläserne Zeitzug, in dem ich sitze, schwebt über diese hinweg. Die Städte dort sind riesig. Dort haben wir geatmet? Unglaublich! Wenn ich zurückblicke – ich bin jetzt wohl etwa 35 Jahre gefahren – dann sehe ich all diese Hektik. Und, dass die Menschen weite Fahrten auf sich nehmen, um in die Arbeit zu kommen. Haben sie ein Familienleben? Seltsam.

Das moderne Zeitalter

Es sorgt dafür, dass wir Menschen treffen, die an einem ganz anderen Ort wohnen und Partnerschaften auf Plattformen beginnen. In dieser sozialen Welt gibt es keine Harmonie und Romantik einer ersten Begegnung. Sie ist verloren, die Romantik.

In der Zukunft sind die Straßen zerstört

Der Blick aus dem Zug nach Vorne in der Zeit ist so beruhigend. Alle Straßen sind zerstört, aber nicht von den Menschen, sondern von der Natur – von den Bäumen. Die Natur hat sich ihren Platz zurückerobert. Den Platz, aus dem wir sie verbannten, mit all unseren Pflastersteinen, haben sich die Bäume zurückerobert. Wir haben in die Erde gebohrt, alles rausgeholt, in die Lüfte geschossen und die Meere vergiftetet. Die Natur hat sich alles zurückgeholt, sehe ich dort vorne. Es ist ruhig und grün, hier in der Zukunft.

Kinder spielen dort

Es spielen tatsächlich wieder Kinder dort draußen, in der Zukunft. Sie malen mit Kreide auf die Reste der zerbrochenen Straßen und springen über Seile. Es erinnert mich an eine Zeit, die ich kannte, aber die schon ganz vergessen ist. Wie lange ist das her? Wie weit müsste ich mit dem Zug in die Vergangenheit reisen, um dieses Bild zu finden? Bolzplätze, auf denen Väter mit ihren Kindern spielen, sehe ich. Jetzt schwebe ich über Häuser. Von oben kann ich hineinsehen, während ich sie passiere. Sie sehen gemütlich aus und doch, als seien sie aus Metall, ein bisschen wie Garagen. Auf den Straßen ist kaum Strom. Es gibt wenig künstliches Licht und Laternen. Die Nacht dort ist von einer natürlichen Dunkelheit, in der man die Sterne leuchten sehen kann. Es gibt keine leuchtende Reklame mehr.

Die Menschen sind netter

Sie sind wieder näher zusammen. Sie sitzen nicht länger einzeln in vielen Zimmern vor ihren vielen Bildschirmen. Dort sitzen sie zusammen in einem einzigen Zimmer und sprechen freundlich zueinander. Ist das Luxus – oder ist es Armut? Sie müssen sich nicht auf ein Fernsehprogramm einigen – sie sprechen zueinander. Die traurigen Dinge des Lebens sahen wir in der Vergangenheit nicht, dort hinten in der Zeit, die ich mit dem gläsernen Zeitzug verließ. Wir nannten diese traurigen Entwicklungen damals sogar „Fortschritt“.

Der Zug passiert die Zeit – ich bin 50, vielleicht 75 Jahre in der Zukunft

Schmetterlinge sehe ich, viele bunte Schmetterlinge – was für eine Farbenpracht! Dort steht ein Schild: „Stopp!“, steht da! Ich höre eine junge Frau mit einer Gruppe anderer Menschen sprechen. Sie sagt: „Wir haben es geschafft. Hier sind wir wieder Menschen, endlich. Wir lachen in der Schule und rechnen im Gehrin. Wir halten zusammen. Auch, wenn es bedeutete, dass wir zurück zum Ursprung mussten.“

Ich komme am Ziel an – 100 Jahre in der Zukunft

Es herrscht Harmonie! Bevor die Erde sich ihr Recht zurückholte, haben wir es ihr zurückgegeben. Ich bin am Ziel! Angekommen – hier ist der Fortschritt im Gleichgewicht. Faszinierend! Wir müssen blind gewesen sein, vor hundert Jahren. Irgendwo, auf meiner Zeitreise im gläsernen Zug, erhoben junge Menschen ihre Stimme, die hier – in hundert Jahren nun schon alte Menschen sind. Sie sagten: „Stopp! Nicht so weiter!“

Die Menschen in der Zukunft besitzen nicht länger Berge von Kleidung und zahlreiche Verpackungen

Sie haben „Stopp“ gesagt zu Ausschreibungen, die alles billiger und noch billiger machen. Sie haben keine Massenware mehr, denn sie wertschätzen die wenigen Dinge wieder. Das Handwerk hat eine Renaissance erlebt – es gibt wieder Schuster und Schneider, die Dinge produzieren, die gepflegt werden und lange halten. Energie wird nicht mehr verschwendet, es leuchten nicht länger überall Reklamen im ewigen Preiskampf und Wettbewerb. Die Menschen hängen nicht mehr durchgehend am Telefon, die ganze Zeit. Sie leben im Einklang mit allem. Sie erforschen die Welt und ihre Dinge, ohne sie zu zerstören. Die Natur hat ihren Platz und die Meere haben Fische. Das Meer hat die Menschen nicht in ihre unbelebten Tiefen gezogen, das Land wurde nicht überschwemmt.

Es herrscht Freude dort, in hundert Jahren. Kinder spielen miteinander und nicht mehr Töten am PC. Die Menschen besitzen Gärten und leben in harmonischer Gemeinschaft. Sie sind einen Schritt rückwärts und gleichzeitig vorwärts gegangen, in ihrer Entwicklung.

Am Ende meiner Reise bin ich sehr berührt: Dort sind meine Enkel!

Sie sehen glücklich aus.

Kommentare

5 comments on “Im gläsernen Zug der Zeit – die Welt in hundert Jahren”
  1. Hal sagt:

    In meiner Strasse, irgendwo, just um die Ecke, machen die Bäume genau das. Der Bürgersteig ist nicht mehr zu retten. Diese Bäume sind Zeuge einer Zeit, sind deplatziert, sie sterben bald, aber sie machen sich stark um andere Ihrer Art nicht mehr so leicht zu deportieren.

    1. Susanne Gold sagt:

      Schön. Vielleicht ein Omen?

      1. claudiaconenclaudia sagt:

        Vielen dank Susanne

    2. claudiaconenclaudia sagt:

      Vielen dank für Dein Kommentar,es ist unglaublich beeindruckend wie-viel
      Kraft in den Bäumen in der Natur steckt

      1. Ariane Brandes sagt:

        Liebe Claudia, mega Zeilen, wir haben eine ähnliche Vision und schon bald kommt eine Serie heraus, von einem befreundeten Regisseur, der zeigt, wie und wo die Natur es geschafft hat auch an den grausamsten Plätzen auf der Welt, alles friedlich zu beleben.

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