Utopien und Innovationen zwischen Hoffnung und Horror

Im Jahr 1900 waren Röntgenstrahlen eine spektakuläre neue Technologie. Sie ermöglichte eine Phantasie aus dem Land der Utopien: Plötzlich war es möglich, zuvor Unsichtbares sichtbar zu machen. Diese Innovation war so außergewöhnlich und faszinierend, dass sich in Windeseile zahlreiche Mythen und Gerüchte über diese elektromagnetischen Wellen rankten.

Die Utopie vor Verbrechen sicher zu sein, wurde durch diese Technologie beflügelt, wie auf diesem Bild zu sehen ist.

Mehr Überwachung schafft mehr Sicherheit

Das ist ein weit verbreiteter Glaube. Hier stehen sich die Dystopie des Überwachungsstaates, wie eindringlich in Orwells 1984 beschrieben, und die Utopie der Sicherheit aller Bürger vor Verbrechen gegenüber.

Überwachung ist heute ein kontrovers diskutiertes Thema. Im Gegensatz zu den Röntgenstrahlen, mit denen Polizisten nie durch Wände sahen, bieten die komplexen Technologien unserer Zeit unglaubliche Möglichkeiten der Überwachung.

Die einen erhoffen Sicherheit, die anderen fürchten totale Bürgerkontrolle.

Befürworter von Überwachungssystemen argumentieren gerne mit schweren Verbrechen, die verhindert hätten werden können: Zum Beispiel der Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 oder das Massaker auf der Insel Utøya in Olso im Juli 2011, wie der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016. Sie appellieren an die Ängste der Menschen und an das Bedürfnis, sich vor Unheil zu schützen.

Oft wird auch betont, dass die Verbrecher sich ebenfalls der neuen technischen Innovationen bedienen und man dem nur mit den gleichen Mitteln begegnen könne. Letzteres erinnert ein bisschen an das Wettrüsten mit Atomwaffen während des kalten Krieges.

Doch es geht schon lange nicht mehr um Sicherheit vor Verbrechen und Krieg. Die Mittel der Überwachung liefern heute ganz andere Möglichkeiten. Es geht heute um das Verhalten der Menschen und deren Beeinflussung. Nudging – Manipulation ist in aller Munde.

Videoüberwachung, Datenkontrolle, Lauschangriff: Längst praktizieren auch die Unternehmen das, was der Staat ihnen vormacht. Während das Spähobjekt der Begierde für den Staat der Verbrecher ist, ist es für die Wirtschaft der Kunde. Genauer: Sein Konsumverhalten. Lange schon ist die Privatsphäre kein Geheimnis mehr – sie ist weder vor Staat noch vor der Wirtschaft sicher.

Wie halten wir das selbst? Geben wir unser Privates freiwillig her oder unfreiwillig – oder verdienen wir sogar Geld damit?

Die Horrorvision der totalen Kontrolle

Die lückenlose Überwachung von Bürgern und Konsumenten – ist das eine paranoide Phantasie oder reale Gefahr? Der digitale und transparente Mensch, der seine persönliche Freiheit gegen das Versprechen von Sicherheit oder Luxus eintauscht und erst zu spät bemerkt, dass er keine Freiräume mehr hat – das ist die Horrorvision.

Die Frage danach, ob Überwachung sinnvoll ist, hing bislang nur mit der Gefahr von Kriminalität und Terror zusammen

Muss diese Frage heute erweitert werden um jene, die nach dem Sinn einer akribischen Dokumentation des Kauf- und Sozialverhaltens aller konsumierenden Bürger fragen? Mit unserem Verhalten im Netz öffnen wir den Wirtschaftsunternehmen möglicherweise Tür und Tor, uns auszuspionieren und zu benachteiligen.

Können wir uns vor technisch Überlegenen Gegnern schützen?

Selbst wenn wir uns auf Verschlüsselungsverfahren verlassen, besteht die Gefahr, dass sie jemand knackt. Auch die moderne Kryptologie hat ihre Grenzen.

Eines der bekanntesten Systeme zur Verschlüsselung, RSA – benannt nach seinem Schöpfern, Ronald Rivest, Adi Shamir und Leonard Adleman – beruht auf der Annahme, dass es schwer ist, eine sehr große Zahl in ihre großen Primfaktoren zu zerlegen. Ein heutiger Computer kann das auch nicht. Aber der Quantencomputer, der könnte es wohl.

Sobald jemand mit krimineller Energie den ersten Quantencomputer in Betrieb nimmt, ist dieses System vor Verbrechen auch nicht mehr sicher

Dies ist ein guter Beleg dafür, dass der Kampf für Sicherheit und gegen das Verbrechen eigentlich ein Kampf um den technischen Fortschritt ist. Nämlich darum, wer ihn zuerst nutzen kann. Und – natürlich – mit welcher Intension neue Technik genützt wird.

Das ist der Pudels Kern: Der Kampf um Sicherheit ist eigentlich ein Wettstreit darum, mit welcher Intension die Technik genutzt wird.

Also um soziale Natur des Menschen und sein Verhalten

Doch selbst das Verhalten der Menschen ist heute beeinflussbar. Die neuen Technologien und das Internet verändern nicht nur unsere Umwelt, sie verändern uns Menschen selbst.

Eine Methode, die Menschen digital zu beeinflussen ist das sogenannte Nudging. Geschieht dies im großen Stil, zum Beispiel mit den riesigen Datenmengen aus den sozialen Medien – den Big Data – nennt es sich – Big Nudging – die Manipulation der Massen.

Wie einst die Röntgenstrahlen die Fantasie der Menschen beflügelten, so tut es heute die Möglichkeit, Massen manipulieren und auszuspähen. Wie gut funktioniert die Spionage, wie gläsern sind wir? Was kann gesehen werden und was sollten wir verbergen? Viele Fragen und viele Spekulationen kursieren dazu.

Der Hoffnung, eine große Zahl von Menschen – mit Big Nudging – zu einem besseren Verhalten zu bewegen und eine sichere Zukunft zum Wohle aller zu schaffen, steht die Horrorvision der totalen Kontrolle und Durchsichtigkeit gegenüber, die wenige ausnützen könnten, Verbrechen in ganz neuer Art zu begehen.

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