Andrea Holthaus „Die Welt in hundert Jahren“ – Eine Zeitlücke in der Badewanne

Illustration Susanne Gold/Text Andrea Holthaus

 

Der Tag war lang und mein Nacken schmerzt

Ich will einfach nur nach Hause, mich in die warme Badewanne legen und dann ins Bett. Das Badewasser läuft ein, ich zünde ein paar Kerzen an und im Hintergrund läuft leise Entspannungsmusik. Der Raum ist gefüllt mit dem Duft von Pinien und Limetten und in der Wanne bauen sich Schaumberge auf, in die ich erschöpft hinein sinke.

Ein Hupen zerreißt die Stille

Ich schließe die Augen, lasse meinen Atem fließen, genieße die Wärme des Wassers auf meiner Haut und lasse mich fallen. Ein lautes Hupen lässt mich hochfahren und ich erschrecke mich fast zu Tode. Wo bin ich?

Ein Leinentuch um hüllt meinen Körper. Der Blick an mir herunter erschrickt mich

Ich blicke an mir herunter und starre auf ein weißes Leinentuch, welches meinen Körper umhüllt. Auf meinen Schultern liegen lange blonde Haare und ich habe das Gefühl viel kleiner zu sein. Die Haut meiner Hände ist ganz glatt, wie von einem jungen Mädchen. Oh mein Gott, ich bin ein junges Mädchen. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus und ich zweifel an meinem Verstand.

Plötzlich bin ich in einer fremden Umgebung

Um mich herum stehen hohe Häuser in Reihe und Glied und jedes hat seine eigene Farbe. Schöne Häuser und keins gleicht dem anderen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Furcht ergreift mich und ich will einfach nur weg. Ich will nach Hause. Die Straße schlängelt sich durch enge Gassen und scheint nicht enden zu wollen. Nach einiger Zeit bleibe ich erschöpft stehen. Es riecht seltsam und leichter Nebel legt sich auf dem Boden nieder.

Da eine Bank, ich muss mich nur ein bisschen ausruhen

An mir ziehen Menschen vorüber und sie sehen eigenartig aus. Sie sind alle weiß gekleidet und tragen die gleichen Leinentücher wie ich. Neben den Bank ist ein Mülleimer angebracht in dem ich eine zerknüllte Zeitung entdecke.

Die New York Post vom 21.02.2118

Whaaaaaat, wie kann das sein? Was zum Teufel ist geschehen, wie komme ich hierher?
In mir steigt tiefe Verzweiflung auf, mir wird kalt und ich spüre großen Hunger, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen.

Plötzlich setzt sich ein älterer Mann neben mich

Er schaut mich mit sanften Augen an. Im ersten Moment will ich fliehen, aber meine Beine sind wie gelähmt. „Na mein Kind, was machst du denn hier so alleine?“ „Ich weiß es nicht. Wo bin ich hier überhaupt? was wollen Sie von mir?“ “ Aber Liebchen, du bist mitten in New York. Hab keine Angst, ich tue dir doch nichts. Wo sind denn deine Eltern?“ Mir steigen Tränen in die Augen und ich schlucke ein paar mal bevor ich antworte. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung was ich hier mache und warum ich hier bin“

Er guckt mich skeptisch an und blinzelt mit den Augen

„Ah, noch eine aus der anderen Welt. Ich habe schon von euch gehört, aber noch nie jemanden getroffen. Es ist mir eine Ehre. Willkommen in der neuen Zeit.“ “ Was genau meinst du, wovon sprichst du?“

Er streichelt mir zärtlich über den Kopf und flüstert leise

„Es scheint Lücken im Zeitsystem zu geben und immer wieder verirren sich Leute hier her. Im ersten Moment wollen sie wieder zurück in ihre Zeit, aber nach einer Weile erkennen sie den Wert unserer Zeit und entscheiden sich zu bleiben.“

„Sie wollen bleiben, aber warum, was hält sie hier?“

„Die Menschen sind hier glücklich. Sie haben erkannt, was es heißt wieder zu lieben und füreinander zu sorgen. Jeder hier kümmert sich um das Wohlergehen des anderen. Wir arbeiten nicht mehr für Geld, oder weil wir müssen. Alles geschieht aus Freude und erfüllt uns zutiefst.

Geld wurde abgeschafft und jeder kann leben wie er will

Neid, Hass, Krieg, Armut, Hunger und Umweltbedrohungen gehören der Vergangenheit an. Jetzt zählt nur noch in Würde und Freude alt zu werden. Keiner lebt alleine und Bildung steht allen zur Verfügung. Reisen ist für alle möglich und Rassenunterschiede spielen keine Rolle mehr. Unser einziges Ziel ist es, glücklich zu sein und zu lieben.“

„Das hört sich ja an wie das Paradies“

„Ja meine Kleine, es ist das Paradies. Schau dich um, die Menschen sind entspannt, sie tragen ein Lächeln im Gesicht und spielen wie die Kinder. Komm mit, ich zeige dir unsere Welt….du wirst sehen“

Er nimmt mich an die Hand und wir gehen die Straße entlang

Brrrrr, was ist das Wasser kalt geworden.  Ich öffne die Augen und schaue auf die fast runter gebrannten Kerzen. War ich etwa eingeschlafen? Ein seltsames Gefühl macht sich in mir breit, fast ein bisschen wie Heimweh…

Es wird Zeit ins Bett zu gehen.

 

 

 

 

Kommentare

5 comments on “Andrea Holthaus „Die Welt in hundert Jahren“ – Eine Zeitlücke in der Badewanne”
  1. schlingsite sagt:

    Das Klamottendisign ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Wenigstens gibt es noch Zeitungen und sogar Menschen, welche sich umeinander kümmern.

  2. Dieter Hannemann sagt:

    Jeder hat da seinen persönlichen KI-Roboter, welche nicht von Menschen zu unterscheiden sind. Ihnen hohes Wissen verdanken wir, dass Gier, Hass und Neid überwunden sind. Jeder kann da seine Träume und Visionen umsetzen. Man lebt an unterschiedlichen Orten, auf Bergen, in Unterwasserstädten, im Weltall und in Städten die früheren Epochen nachempfunden wurden. Das mit den weisen Kleidern ist nur die Antike in Griechenland nachempfunden.
    Da es in der Zukunft tausendmal besser ist als hier, treffen wir uns sicher bald da, viele von uns schreiben hier nur im Internet um die Entwicklung zu beschleunigen.

  3. schlingsite sagt:

    Das von manchen ersehnte Schlaraffenland, wo alle Wünsche sogleich wahr werden, erweist sich vielleicht schon bald als recht langweilig.

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