Aus dem Rahmen fallen – wenn alle mit dem Kopf schütteln

In der U-Bahn oder in der Tram – Wann immer es passiert, gibt es verlegene Blicke

Wer kennt es nicht? Wenn ein Fremder in öffentlichen Verkehrsmitteln laut mit sich selbst redet und alle schauen sich verschwörerisch an, um sich gegenseitig zu versichern, dass sie ebenfalls diese eine Person als absonderlich wahrnehmen? Bestätigende Blicke.

Nicht konformem Verhalten begegnet man häufiger in den letzten Jahren

Ob es die Rentnerin ist, die fortwährend ihr Gebiss herausschnalzen lässt, die Frau in der Tram, die laut mit sich selbst über ihre Schulden spricht oder der Mann, der sich schon mehrfach eingepinkelt hat – offenbar wohnungslos ist und mit einem unsichtbaren Kameraden laut streitet – diese Menschen verwirren uns, weil sie aus dem Rahmen fallen. Die Regeln für den sozialen Umgang sind unausgesprochen und dennoch streng.

Der Soziologe Harold Garfinkel hat mit beeindruckenden Krisenexperimenten belegt, wie streng diese Regeln eigentlich sind. Es steht nicht weniger als der Verlust der Persönlichkeitsrechte auf dem Spiel, hält man sich nicht daran.

Die Regeln sorgen dafür, dass wir uns gegenseitig unsere Normalität bestätigen. So als würden wir wortlos sagen: „Findest Du diese Person ebenfalls seltsam? Ja? Wie gut, dass wir die Normalen sind.“ – Sprachlose Ausgrenzung, die nur einiger Blicke bedarf.

Immer häufiger begegne ich zwischenmenschlichen Auffälligkeiten

Die Städte werden voller. Alles und jeder will in die Stadt ziehen. Erstmals in der Geschichte lebt heute über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, rund um den Globus ziehen Menschen vom Land in die Stadt.

Das bemerkt man an Staus auf den Straßen, Parkplatzmangel und an übervollen öffentlichen Verkehrsmitteln. Zeitgleich haben psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt zugenommen. Und auch die „Seltsamen“, denen man in Einkaufszentren, am Bahnhof oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln begegnet.

Ist das eine Folge der Digitalisierung?

Ich erinnere mich, als ich Mitte der achtziger Jahre eine kaufmännische Lehre machte: Ich schrieb einen Brief – vorsichtig und langsam, weil mit manueller Schreibmaschine.

Wenn ich einen Fehler machte, konnte ich diesen nicht korrigieren, sondern musste die ganze Seite neu tippen (unglaublich, dass ich heute in einen Blog tippe und es innerhalb von Sekunden – sogar global – publizieren kann: Was für eine rasante Entwicklung).

Danach habe ich den Brief in den Umschlag getan, eine Briefmarke darauf und zur Post gebracht. Der Empfänger bekam den Brief frühestens am nächsten Tag und durchlief gleiches Ritual. Das bedeutete in Summa, dass mich ein solcher Vorgang nicht vor drei bis vier Tagen wieder in Aktion versetzte.

Und heute? Heute schreibe ich eine Mail – bekomme binnen fünf Minuten eine Antwort mit einem Arbeitsauftrag zurück. Nicht nur das – im Verteiler sind mindestens fünf Leute, die ebenfalls dazu noch einen Wunsch äußern.

Mails beantworten ist zum Pingpong Ballspiel geworden. Und es erschöpft! Ich kenne nicht wenige Leute, die überfordert sind von ihrem Posteingang. Ganze Hierarchien werden heute über den Umgang mit der Mailbox geregelt: Desto weiter Du oben stehst, desto mehr kannst Du es Dir leisten, Deine Mails nicht zu beantworten. Wird ein Dritter dafür bezahlt, Deine Mailbox zu pflegen, bist Du wahrscheinlich im Topmanagement.

Und hier spreche ich nur von der Digtalisierung kaufmännischer Berufe. Tätigkeiten, in denen man nunmehr mit Robotern zusammen arbeitet, vermag ich mir nur vorzustellen. So sehr wir bemüht sind, diese menschlich erscheinen zu lassen – sie sind es noch nicht.

Viele Menschen also, in der Stadt – die viel Stress haben

Ich begreife die Tatsache, dass ich immer öfter seltsame Begegnungen in der Stadt habe, als eine Korrelation dieser beiden Faktoren:

Urbanisierung und Digitalisierung

Zum einen die Beengung durch den starken Zuzug in die Städte, welcher seiner Schattenseite besonders in der massiven Wohnungsnot Ausdruck verleiht – zum anderen eine generelle Verunsicherung durch die Digitalisierung von Arbeitsplätzen und Lebenswelten.

Soziales Leben, welches zunehmend digitalisiert ist und eine neue Art der Kommunikation und Bindungen hervorbringt.

Ein Aufbruch in eine neue Welt, in der sich Menschen zunächst neu orientieren müssen – und zwar in allen Lebensbereichen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Herausforderung nicht alle stemmen. So geht beispielsweise der Historiker Yuval Noah Harari davon aus, dass der technologische Fortschritt eine „Klasse der Nutzlosen“ hervorbringen wird.

Ich verstehe die Digitalisierung als eine Krise. Durchaus voller Gefahren, aber auch voller Möglichkeiten. Ja, für mich steht sogar die Möglichkeit einer neuen Weltordnung – sogar einer gerechten – im Raum.

Ich bin Optimistin.

Mich interessieren die Geschichten dieser Menschen, die aus dem konformen Verhalten ausgestiegen sind

Sie sind noch nicht in den übervollen psychiatrischen Einrichtungen unseres Landes. Nein, sie sind in unserem Umfeld und bewegen sich zwischen uns. Noch hat keiner der Zeitgenossen sich berufen gefühlt, die Polizei zu rufen und eine Zwangseinweisung vornehmen zu lassen. Noch reichen Blicke für die Abgrenzung.

Mich interessieren die Geschichten dieser Menschen. Sie sind für mich der Schlüssel zu dem, was in der Zeit des Auf- und Umbruches in die digitale Welt „normal“ ist.

Analog zu Norbert Elias und seinen Studien zum Prozess der Zivilisation denke ich, dass die Betrachtung dessen, was als nicht konform gilt, Aufschluss darüber gibt, was konform ist. Und mehr noch, was die großen Herausforderungen im sozialen Miteinander heute sind.

Elias hat seinerzeit Benimmbücher studiert, um zu verstehen, was Usos in der Gesellschaft war. Stand beispielsweise darin: „Wische Dir nicht den Mund mit dem Tischtuch ab!“, war das für ihn ein Indikator, dass die Menschen dies durchaus bei Tisch getan haben.

Die Auffälligen verstehen, um die „neue Normalität“ zu begreifen

Normalität ist nicht universell gültig – man stelle sich vor, man würde Leute mit einer Zeitmaschine aus dem Jahr 1975 in eine U-Bahn von heute katapultieren. Wie würden diese all die Mitreisenden, die in ihre kleinen Geräte vertieft sind, empfinden?

Alleine die Tatsache, dass es Kulturen gab, in denen es üblich war, Menschenopfer zu bringen, macht deutlich, welchem Wandel Normen und Werte einer Kultur ausgesetzt sein können.

Jeder hat sein eigenes Tempo, sich zu ändern und anzupassen, nicht alle halten Schritt beim Wandel.

Daher würde ich die Seltsamen gerne fragen: „Wie kam es dazu? Was hast Du erlebt, warum benimmst Du Dich so anders?“

Eine Mischung aus Zeitdruck und Feigheit hat mich bisher davon abgehalten.

Allerdings nicht mehr lange. Denn schließlich habe ich mir als Utopiensammlerin vorgenommen, Utopien und Geschichten von Menschen zu sammeln.

Die Geschichten der Seltsamen gehören ebenso hinein, wie die die Aussagen von Entscheidern und Meinungsgebern aus allen Bereichen gesellschaftlichen und sozialen Lebens.

Ich habe jede Menge Thesen, aber keine einzige Antwort. Vielleicht finde ich auch niemals eine. Aber ich werde es zumindest versucht haben.

 

 

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